Vinzenz‘ Vermächtnis in einer Kirche mit verfeindeten Lagern
War Vinzenz von Paul die Speerspitze im Kampf gegen den sog. Jansenismus, der innerkirchlich die katholischen Reformkräfte besonders in Frankreich spaltete? War er gar zumindest anfänglich dieser Richtung zugeneigt? Und warum hat er sich schließlich zum Kampf dagegen entschieden? Neuere Forschungen (Alison Forrestal) bringen Licht in diese Fragen, können aber höchstens bisherige Antwortversuche etwas in Frage stellen. Ausgangspunkt ist ein theologischer Streit mit Auswirkungen auf das kirchliche und sakramentale Leben, bald aber bekommt er eine starke politische Komponente. Ausgerechnet ein Freund und Gefährte von Vinzenz, Jean Duvergier de Hauranne (1581-1643), bekannt als (Abt von) Saint-Cyran, den er im Kreis von Berulle kennengelernt hatte, spielte in Frankreich dabei die Hauptrolle.
Saint-Cyran lernt bei seinem Theologie-Studium in Paris den Niederländer Cornelius Jansenius (1585-1638) kennen, mit dem er die Begeisterung für das Studium der Kirchenväter, im Besonderen der Schriften des hl. Augustinus, teilt. Dafür ziehen sie sich sogar mehrere Jahre (1612-1617) nach Bayonne, der Heimatstadt Saint-Cyrans, die nur 50 km von Vinzenz’ Geburtsort entfernt ist, zurück. Es geht um das Zusammenwirken von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit. Mit Martin Luthers allein aus Gnade werden wir gerettet, Werke sind ohne Bedeutung und der katholischen Antwort im Konzil von Trient wurde das Thema in akademischen Kreisen neu aufgerollt. Der neue theologische Ansatz, der sich speziell auf Augustinus berief, vertrat eine rigorose innerliche Frömmigkeit gegen einen Barockkatholizismus mit Betonung äußerer Formen bis hin zu kunstvoll aufgeführten Gottesdiensten am Hof. In moraltheologischen Fragen wandte er sich gegen die Jesuiten, denen als Prinzenerzieher und Seelsorger an den Fürstenhöfen eine zu lockere und nachgiebige Praxis und Lehre (Laxismus) vorgeworfen wurde. Ebenso sollte der Empfang der Sakramente viel stärker reglementiert werden, z .B. sollte jemand erst nach strenger Buße die Lossprechung von seinen Sünden erhalten. Die Tendenz zu einem rigorosen Elite-Christentum ist nicht zu übersehen.
Saint-Cyran tritt 1617 in den Dienst des Bischofs von Poitiers. Die meiste Zeit hält er sich aber in Paris auf, schließt Freundschaft mit Berulle und anderen aus seinem Kreis, darunter Robert Arnauld. Dessen Schwester ist die Äbtissin des prominenten Zisterzienserinnenklosters Port-Royal vor den Toren von Paris. Ab 1635 wird er dort Hausgeistlicher und verwandelt den Ort zum Zentrum des Jansenismus. Nicht nur die Nonnen sind begeistert von der neuen Lehre, auch viele junge Männer der französischen Oberschicht lassen sich in der Nähe des Klosters nieder, führen ein streng religiöses Leben und gründen Schulen (petites ecoles) mit einem anspruchsvollen Ausbildungsprogramm. Bedeutende philosophische Werke und die einzige französische Bibelübersetzung des 17. Jahrhunderts gehen aus ihnen hervor. Der wohl berühmteste Einsiedler von Port Royal wird der geniale Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal (1623-1662) sein.
Saint-Cyran pflegt den Umgang mit den Großen seiner Zeit, darunter Richelieu, und ist weiter brieflich mit Jansenius, der in die Niederlande zurückgekehrt ist, in engem Kontakt. Dieser veröffentlicht 1635 das Werk Mars gallicus, mit dem er sich auf Seiten der in den Niederlanden herrschenden Spanier als erbitterter Gegner der Außenpolitik Richelieus positioniert. Jetzt kommt die neue Bewegung in die Mühlen der Politik. Richelieu lässt 1638 Saint-Cyran mit dem Vorwurf, gegen seine Person ein Komplott zu planen und Ansichten zu vertreten, die gegen die wahre Glaubenslehre verstießen, verhaften. Unter den beschlagnahmten Dokumenten findet man die Kopie eines Briefes an Vinzenz vom 20. November 1637, in dem er sich eher bitter auf ein kürzlich stattgefundenes Streitgespräch über einige grundlegende gegensätzliche Meinungen bezieht, ohne sie zu nennen. Vinzenz wird im April 1639 als Zeuge einvernommen. Er lehnt es ab vor einem Laienrichter auszusagen – als Priester hatte er das Recht dazu – um dann drei Tage lang seine Erklärungen abzugeben. In diesen schützt er Saint-Cyran sehr geschickt, vermutlich aus Loyalität zu seinem alten Freund. (Forrestal 249)
Saint-Cyran wird nicht verurteilt, bleibt aber bis zum Tod von Richelieu im Dezember 1642 im Gefängnis. In der Zwischenzeit wird 1640, zwei Jahre nach dem Tod von Jansenius, unter dessen Namen das theologische Hauptwerk der Bewegung Augustinus veröffentlicht. Es wurde ohne päpstliche Genehmigung gedruckt und daher bereits zwei Jahre später verurteilt. Dennoch verbreitete es sich rasch. Kaum aus dem Gefängnis entlassen, ermutigte Saint-Cyran, der bald darauf sterben wird, seinen Protegé Antoine Arnauld 1643 eine für weitere Kreise leichter lesbare Verteidigung des verurteilten Werkes zu veröffentlichen, das ebenso berühmt gewordene Buch De la fréquente communion. Es fand sofort ebenso viele Gegner wie Befürworter.
Die Auseinandersetzungen werden heftiger. Vinzenz wird anfangs noch einer gewissen Lauheit jansenistischen Ideen gegenüber bezichtigt. Im März 1644 schreibt er an Bernard Codoing, seinen Vertreter in Rom: Ich sage Ihnen nichts über die Anklagen gegen mich, außer dass unsere Kongregation mit Hilfe des Erbarmens Gottes allen neuen Ansichten Widerstand leistet. Ich widersetze mich so gut ich kann all jenen, die vor allem gegen die Autorität des gemeinsamen Vaters aller Christen vorgehen … (II, 453f) Arnauld, die neue Gallionsfigur der Jansenisten, ist mit seinen Angriffen auf Vinzenz und die Lazaristen nicht zimperlich. Als Priester der Diözese Paris hatte er bereits 1641 vor seiner Weihe 10-tägige Exerzitien bei ihnen gemacht. Er lehnte die dargebotenen Inhalte gänzlich ab und schrieb an Saint-Cyran, dass die Exerzitienleiter zwar freundlich wären, aber dass sie keine seriöse theologische Nahrung anzubieten hätten. Daher habe er um die Erlaubnis gebeten, stattdessen das Neue Testament lesen zu dürfen. (Forrestal 253)
In der Folge werden Vinzenz und seine Mitbrüder von Arnauld und anderen Jansenisten als intellektuell zu schwach verunglimpft. Sie würden die eigentlichen Fragen zum Thema Erlösung aus Gnade nicht verstehen. Vinzenz versuche darüber hinaus mit einer geheuchelten Demut davon abzulenken (254), bzw. sei er aus falscher Demut allzu sehr von anderen, sprich den Jesuiten, beeinflussbar und in seinem Urteil nicht unabhängig. Wenn aber die Demut von Vinzenz und seinen Mitbrüdern nur vorgetäuscht ist, dann ist ihre ganze Glaubensverkündigung beim einfachen Volk Blendwerk.
Vinzenz erkennt die Gefahr der Anschuldigungen und nimmt nun den Kampf auf. Er vertieft sich in die strittigen theologischen Fragen und schreibt zwischen 1646 und 1648 eine versierte zehnseitige Abhandlung darüber. Er greift den Vorschlag auf, zusammen mit einem anderen Mitglied des Gewissensrates der Königin eine Arbeitsgruppe zur Verteidigung der alten Wahrheiten zu gründen (261). Geistliche in führenden Positionen, allesamt Doktoren der Sorbonne, darunter auch Professoren, nehmen daran teil. Nicolas Cornet, der Syndikus (Rechtsanwalt) der theologischen Fakultät der Sorbonne, verfasst schließlich fünf Sätze mit Behauptungen aus dem Augustinus, deren Verurteilung durch Rom man betreiben wollte. Dazu brauchte man eine Bittschrift, unterschrieben von den französischen Bischöfen. Von etwa 120 werden 88 unterschreiben. Etwa 20 von diesen hat in erster Linie Vinzenz von Paul dazu bewegt. Er erlebte aber auch einige Enttäuschungen: Gute Bekannte, mit denen er erfolgreich zusammengearbeitet hatte, lehnten ab. Andere, die er noch dazu aus der Vereinigung der Dienstagskonferenzen kannte, schlossen sich einer Gruppe an, die vor einem päpstlichen Urteil ein Bischofskonzil in Frankreich forderten und dafür auch eine Abordnung nach Rom sandten.
Vinzenz ist erleichtert, als der Papst die fünf jansenistischen Sätze 1653 verurteilt. Aber das bringt keinen Frieden. In der Folge erscheint ein neuer Stern am Himmel der Jansenisten. Blaise Pascal veröffentlicht 1656/57 anonym seine höchst einflussreichen Lettres provinciales. Scharfzüngig, humorvoll und in glänzenden Stil wendet er sich gegen die Kasuistik der Jesuiten, die spitzfindig in Fragen der Moral ihnen und den Fürsten genehme Lösungen erfinden und bringt erste aufklärerische Ideen in Umlauf. Manche sehen darin erste Wurzeln der Aufhebung des Jesuitenordens (1773) und der französischen Revolution (1789). Die Auseinandersetzung mit dem Jansenismus wird Vinzenz Zeit seines Lebens beschäftigen und den Lazaristen auch nach seinem Tod nach innen und nach außen noch viele Schwierigkeiten bereiten.
Alexander Jernej CM
(Fortsetzung folgt)
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