Einflussnahme bei kirchlichen Ernennungen im Gewissensrat der Königin


Vinzenz von Paul hat unbestritten einen sehr bedeutenden Beitrag zur Reform der Kirche in Frankreich gemäß dem Konzil von Trient in der Priesterausbildung geleistet. Er hätte aber auch, besonders durch seine Tätigkeit im Rat für kirchliche Angelegenheiten (1643-1653) und seinen außerordentlichen Einfluss auf die Regentin Anna von Österreich einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass viele eifrige, reformorientierte Bischöfe, Äbte und Domherren überall in Frankreich eingesetzt worden seien. Dem widerspricht Allison Forrestal, die in ihrem 2017
erschienen Buch1 ein eigenes Kapitel diesem Thema widmet (223-245).

Die französischen Könige hatten durch das Konkordat von 1516 in vielen Fällen ein Vorschlagsrecht für die mit großen Pfründen ausgestatteten hohen kirchlichen Ämter, dem der jeweilige Papst fast immer nachkam. Viele Nominierungen waren stark sozial und politisch motiviert. Einflussreiche adelige Familien erhoben gleichsam einen erblichen Anspruch auf bestimmte Bischofssitze. In der Versammlung der Generalstände von 1614 protestierten die Abgesandten des geistlichen Standes, des Klerus, beim König und verlangten – zunächst vergeblich – die Einrichtung eines speziellen königlichen Rates, um hier Abhilfe zu schaffen.

Schon vor seiner Berufung in den Gewissensrat, so das bisherige Narrativ, wäre Vinzenz unter König Ludwig XIII. († Mai 1643) und Kardinal Richelieu († Dezember 1642) oft um seine Meinung bei Bischofsernennungen gefragt worden. Zwischen 1636 und 1640 sind vier Mitglieder der sog. Dienstagskonferenz, der regelmäßigen Priesterfortbildung, die Vinzenz leitete, zu Bischöfen ernannt worden. Forrestal zeigt aber auf, dass es dafür keine Empfehlungen von Vinzenz gebraucht hat, denn alle hatten selber ausgezeichnete Verbindungen zum königlichen Hof besessen (228). Diese offensichtlich guten Bischöfe waren in der Folge mit ein Grund, dass der Blick auf ihren Lehrer fiel. So schickt der schon sterbenskranke König im April 1643 seinen Beichtpriester zu Vinzenz und bittet ihn, ihm eine Liste derjenigen zu schicken, die er für die Bischofswürde für geeignet hält (II, 387f). Der König lässt auch bei anderen kirchlichen Persönlichkeiten Rat einholen, was in der Folge unter Königin Anna von Österreich schließlich zur Etablierung eines permanenten Rates für kirchliche Angelegenheiten (Gewissensrat) führt.

Anna aus der spanischen Linie der Habsburger war als Mutter des noch minderjährigen Königs Ludwig XIV. offiziell bis 1651 – mit 13 Jahren wurde Ludwig für volljährig erklärt – tatsächlich aber bis 1661, bis zum Tod Mazarins, dem Nachfolger Richelieus als erstem Minister Frankreichs, Regentin von Frankreich. Sie war keineswegs nur fromm und etwas naiv, wie oft beschrieben, sondern auch sehr machtbewusst. Nachdem sie sich die Position der Regentin gegen das Testament ihres Mannes erkämpft hatte, wollte sie mit Hilfe Mazarins, der als nicht Geweihter den Kardinalstitel trug, die Macht Frankreichs weiter ausbauen um die Herrschaft einmal ihrem geliebten Sohn übergeben zu können. Vertreter des Gallikanismus unterstützten eher diesen Plan, die sog. Devoten, Romtreuen, standen dagegen.

Im Juni 1643 beginnt Vinzenz mit großem Respekt seine Beratertätigkeit bei Hof. An seinen Vertreter in Rom schreibt er: Ich bin niemals des Mitgefühls würdiger gewesen, als ich es jetzt bin, noch habe ich jemals Gebete nötiger gehabt als jetzt, in der neuen Aufgabe, die ich habe. Ich hoffe, dass es nicht für lange Zeit sein wird. (II, 406f) Immerhin werden es fast zehn Jahre werden, in denen Vinzenz versucht in Demut seine Standpunkte zu vertreten. Er weiß, dass er keine andere Macht besitzt, als jene seiner moralischen Integrität.

Neben der Königin, Mazarin und Vinzenz saßen noch der höchste Staatsbeamte, Kanzler Seguier, zwei Bischöfe und ein weiterer Priester im Rat. Dieser tagte anfangs öfter, später, wann es dem Taktiker Mazarin gefiel. Es herrschte größte Diskretion, sodass keine Aufzeichnungen von den Gesprächen gemacht wurden, was aber zu umso mehr Gerüchten führte: Wer hatte mehr Einfluss auf die Entscheidungen der Königin? Wie groß war der Gegensatz Mazarins, der ähnlich wie sein Mentor Richelieu fortwährend um die Vorherrschaft Frankreichs in Europa und das eigene politische Überleben kämpfte und des auf die kirchliche Reform bedachten Vinzenz von Paul? War Vinzenz der Beichtpriester der Königin?

Forrestal räumt den überlieferten schriftlichen Hinweisen, wie es im Gewissenrat zugegangen wäre, die sich meist in Tagebüchern und Memoiren finden, keine große Bedeutung zu bzw. fragt sie nach deren Umständen. Die Klage, die sich Ende 1643 im Tagebuch Mazarins findet, dass die Devoten über Vinzenz versuchen die Zeit der Königin zu seinen Ungunsten zu beschlagnahmen, weist für sie wohl auf anfängliche Versuche hin, die Königin dem Einfluss Mazarins zu entziehen. Der Pfarrer der Kirche am Hof predigte öffentlich gegen die Leidenschaft der Königin für das Theater. Jeder wusste, dass Mazarin bei den Vorstellungen am Hof an ihrer Seite saß. Vinzenz überbrachte der Königin Nachrichten von frommen Adeligen und deren einhelligen Wunsch, es möge am Hof unter ihrem Vorsitz ein Caritasverein errichtet werden. Er selber machte sich daran, Statuten dafür auszuarbeiten (XIII, 821f). Es wurde aber nichts daraus, denn die Königin schlug sich wohl endgültig auf die Seite Mazarins. Dass es dabei wohl kaum nur um die Frage ging, wie die Königin ihre Freizeit verbringt, zeigt die Tatsache, dass erst kurz zuvor eine Verschwörung von hohen Adeligen zu seiner Ermordung vereitelt werden konnte (234).

Es ging am Hof um Macht und Allianzen. Die Vergabe und bisweilen die Errichtung von Bischofssitzen, ausgestattet mit weltlichem Einfluss und beträchtlichen Einkünften, waren ein wirksames Mittel in diesem Spiel. Bei letzterem war Vinzenz nützlich, denn er hatte eine lange Erfahrung im kirchlichen Dienst und Management. Vinzenz verstand es, die wesentlichen Fakten zu sammeln und war ein geschickter Verhandler bzw. Mediator bei Streitigkeiten. Auch besaß er eine hohe Kompetenz (ein Lizenziat) im Kirchenrecht. Ab 1645 investierte Vinzenz viel Zeit im Zusammenhang mit der Errichtung der neuen Diözese La Rochelle. 1628 war diese letzte Festung der Hugenotten gefallen und Ludwig XIII. verkündete kurz darauf die Errichtung eines Bischofssitzes in dieser Stadt. Die Verhandlungen mit den betroffenen Nachbarbischöfen gerieten allerdings bald ins Stocken. Mazarin nahm das Projekt wieder auf und beauftragte Vinzenz mit seiner Durchführung. Dieser konnte nicht nur alle betroffenen Bischöfe zufriedenstellen, sondern Vinzentinische Spiritualität auch erreichen, dass sein Kandidat, Bischof Raoul von Saintes, erster Bischof von La Rochelle wurde. In diesem Fall ging es aber offenbar zuerst darum, dass die Stadt nun „katholisch gemacht” wurde und nachdem Vinzenz dies geschafft hatte, konnte man in der Frage, wer Bischof sein sollte, seinen Vorschlag gleichsam als Belohnung leicht annehmen.

Mazarin und noch mehr die Königin wollten die Anliegen der Devoten und der Kirchenreform nicht gänzlich missachten. Daher war für sie Vinzenz auch ein wichtiger und gut vernetzter Informant; der durch seine Mitbrüder, befreundete Bischöfe u.a. unaufhörlich regelmäßige Berichte aus vielen Regionen Frankreichs erhielt, die für die Tätigkeit im Gewissensrat relevant waren. Beeinflussen freilich ließen sich Mazarin und die Königin aber kaum: Vinzenz erhält z. B. von seinem Freund Bischof Solminihac von Cahors Nachrichten über den eigenwilligen Charakter und das Verhalten des ernannten jungen Bischofs Estrades von Périgueux, der nun (aufgrund der militärischen und diplomatischen Verdienste seines Bruders) die bedeutendere Diözese von Condom erhalten sollte. Vinzenz bringt das in den Gewissensrat ein und ist gegen eine Versetzung, allerdings vergeblich (235).

Das Gerücht, Vinzenz hätte in seiner Zeit im Gewissensrat der Königin dafür gesorgt, dass immer die geeignetsten, auf die Kirchenreform hin orientierten Kandidaten zum Zug gekommen wären, hat nach Forrestal mit einem anderen Amt zu tun, das Vinzenz zur selben Zeit und noch darüber hinaus bis zu seinem Lebensende ausübte. Die Herzogin von Aiguillon ernannte ihn zum Generalvikar für zwei große Benediktinerabteien und ein Priorat. Sie übte hier das Patronatsrecht für ihren minderjährigen Neffen aus, der es von seinem Großonkel Richelieu „geerbt” hatte. In diesem Amt konnte Vinzenz nach bestem Wissen und Gewissen viele Ämter, meist Pfarren, in den verschiedensten Diözesen besetzen. (223f.; 20 Nominierungen durch Vinzenz sind belegt).

1 Vincent der Paul, The Lazarist Mission, and French Catholic reform. Oxford university press.


Alexander Jernej CM
(Fortsetzung folgt)


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