Schluss: Das Vinzenz-Bild heute

Vinzenz von Paul ist in der Geschichtsschreibung des 21. Jahrhunderts angekommen. Zwei Historiker, Alison Forrestal aus Irland und Daniel Steinke aus Deutschland, haben sich unabhängig voneinander über Jahre anhand intensiver Erforschung der Quellen mit Leben und Wirken des Heiligen der Nächstenliebe beschäftigt und ihre Ergebnisse 2017 bzw. 2019 publiziert. Nachdem sich Forrestal in Vincent de Paul, The Lazarist Mission, and the Catholic Reform auf das Wirken von Vinzenz in Frankreich beschränkt, bietet Steinke mit seiner Untersuchung über Vinzenz von Paul und die Praxis der Sklaverei im Mittelmeerraum eine willkommene Ergänzung.

Durch beide Werke – es gibt auch noch weitere Artikel der beiden Autoren über Vinzenz von Paul – ergibt sich ein neues Vinzenz-Bild, das noch weiterer Beschäftigung bedarf. Darüber hinaus haben sie das Verdienst, dass Vinzenz von Paul und die Lazaristen in der akademischen historischen Forschung in den Bereichen Katholische Reform in Frankreich und Erforschung der Sklaverei einen Platz erhalten haben. So ist zu wünschen, dass uns von den Universitäten noch manches Neue über Vinzenz und die Anfänge seiner Bewegung, die heute in der weltweiten Vinzentinischen Familie mit mehreren Millionen Mitgliedern weiterlebt, erreichen wird.

Als erstes Resümee meiner historisch nüchternen Lebensbeschreibung von Vinzenz von Paul in 16 Folgen anhand und nach kritischer Überprüfung der oben erwähnten Publikationen möchte ich Folgendes festhalten:

Vom bisherigen Schema, das alle Biographen mehr oder weniger von Abelly übernommen haben, demzufolge Vinzenz zuerst durch innere Erfahrungen und dann äußere Ereignisse im Jahr 1617 ein für alle Mal verwandelt, bekehrt worden wäre und er fortan als Heiliger nur mehr die Armen vor Augen von Gründung zu Gründung, von Erfolg zu Erfolg geeilt wäre, gilt es sich zu verabschieden. Vinzenz lässt sich in kein Schema pressen. Nur so viel lässt sich sagen: Er ging im goldenen Jahrhundert in Frankreich, in dem kirchliche Reform und politischer Aufstieg der Nation Hand in Hand gingen, seinen persönlichen spirituellen Weg und nahm immer neu die mannigfaltigen Herausforderungen des Lebens als von der Vorsehung Gottes kommend an.

Bronwen Mc Shea1 schreibt in ihrer englischsprachigen Buchbesprechung Alison Forrestal das Verdienst zu, Vinzenz dorthin zurückgebracht zu haben, wo er hingehört: in den Mittelpunkt der Geschichte, wenn auch nicht immer als Hauptdarsteller… Ihr DePaul ist glaubwürdig als ein Mann, der im bourbonischen Frankreich des siebzehnten Jahrhunderts erst zu Ansehen und dann zur Verehrung auf Hochaltären aufsteigen konnte. Anstelle des sentimentalen bäuerlichen Priesters, dessen Güte und Demut die Aristokraten zu plötzlicher Frömmigkeit und Liebe zu den Armen zuinnerst bewegte [dargestellt im berühmten Vinzenz-Film von 1947], präsentiert Forrestal einen gebildeten, ehrgeizigen Initiator, dessen reformatorische Vision, dessen Gespür für die Ziele Gottes in seinem Leben und dessen Geschick, sich in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zurechtzufinden, im Laufe der Zeit reiften – durch seelsorgerische Erfahrungen, Prüfungen und Gebete sowie durch wechselseitige Beziehungen zu Mäzenen und Dévots, die ihre eigenen Ziele verfolgten.

Damien Tricoire2 liest in seiner deutschsprachigen Besprechung ähnliches heraus: Forrestal stellt Vincent DePaul als jemanden dar, der durchaus einen eigenen und einflussreichen Beitrag zur Katholischen Reform leistete, jedoch nicht als einen Visionär und eine Ausnahmepersönlichkeit. In einem Punkt war Vinzenz dennoch außergewöhnlich. Er war ein begnadeter Netzwerker und geschickter Organisator. Er suchte und pflegte Kontakte. Forrestal unterstreicht Vinzenz‘ Beeinflussung durch andere Vertreter der Erneuerungsbewegung. Er entwickelte allmählich und aufgrund von Begegnungen mit Klerikern sowie der Patronage von Hofmitgliedern seine Ideen und Aktivitäten: Er ergriff Chancen, die sich ihm boten.

Die persönlichen Begegnungen mit dem Bischof von Genf, dem hl. Franz von Sales 1618 führen etwa dazu, dass Vinzenz zum Superior zweier Klöster der Gemeinschaft der Visitation in Paris ernannt wird. Franz von Sales, der 1622 stirbt, hatte nicht zuletzt durch seine Schriften viele Verehrer. Er war auch ein gesuchter geistlicher Berater. Luise von Marillac war ihm sehr verbunden. Vinzenz wird unter den salesianisch geprägten Gläubigen – Männern und Frauen – viele aktive Begleiter auf seinem Weg finden und sich vorhandene Netzwerke zu Nutze machen.

Mit der Gründung der Caritasvereine, aus denen die Barmherzigen Schwestern hervorgehen werden, gelingt Vinzenz ein großer eigenständiger Wurf. Die Zusammenarbeit mit Frauen ist seine Stärke. Neben Luise von Marillac sind v. a. Madame de Gondi und die Herzogin von Aiguillon zu nennen. Diese war als Nichte des mächtigen ersten Ministers Frankreichs Kardinal Richelieu Türöffner ins Zentrum der staatlichen Macht. Im Bereich der Galeerenseelsorge und der Tätigkeit der Lazaristen für die christlichen Sklaven in Nordafrika gibt sie den Ton an. Vinzenz kommt mit diesem Werk in der Berberei oftmals in Bedrängnis. Er lernt daraus und wird der Herzogin bei anderen Anfragen, sich da oder dort zu engagieren (z. B. beim Allgemeinen Hospital in Paris), nicht zustimmen.

Vinzenz lernt dazu und sucht immer neu seinen Weg: Forrestal stellt Vincent DePaul als einen Mann von Prinzipien dar, der jedoch auch pragmatisch und kompromissbereit war. Er musste Rücksicht auf die Anforderungen seiner Patrone nehmen, was die Entfaltung der missionarischen Tätigkeit wiederholt beeinträchtigte (Tricoire). Mc Shea drückt es so aus: Letztlich zeigt Forrestal … jedoch, dass DePauls aufsteigender Stern im bourbonischen Frankreich und das Wachstum und die Erhaltung der Kongregation nach seinem Tod von der Bereitschaft abhing – die zuweilen ambivalent war, wie bei der öffentlichen Bekämpfung des Jansenismus – mit den wohlhabenden Eliten, den Vertretern von Staat und Kirche zusammenzuarbeiten, wenn sie unterm Strich seinen spirituellen Zielen dienlich waren.

Entgegen bisheriger Darstellungen betonen Forrestal und Steinke, dass Vinzenz‘ Theologie und Methoden von begrenzter Originalität waren. Forrestal arbeitet darüber hinaus den Einfluss von und die Nähe zu Jesuiten, Oratorianern, Salesianern und Sulpizianern heraus. Die häufige Kommunion, die Betonung der Milde Gottes, die Sanftmut im Auftreten, das Bestreben, den Gläubigen eher Hoffnung zu machen als ihnen mit Strenge zu begegnen, die Gründung von Laienbruderschaften, die karitative Tätigkeit, die Missionen auf dem Land oder auch das Engagement in der Priesterausbildung – dies alles teilten DePaul und die Lazaristen mit den anderen Kongregationen der Katholischen Reform. Dennoch hebt Forrestal hervor, dass DePaul den Lazaristen ein klares Profil gab und aufgrund seiner organisatorischen Fähigkeiten und seiner Beziehungen einen besonderen Erfolg hatte. (Tricoire)

Da Vinzenz viele Kontakte pflegte und als sehr demütig galt, wurden ihm posthum viele Verdienstmedaillen umgehängt. Steinke widerlegt ganz klar die These, Vinzenz wäre ein Pionier der Galeerenseelsorge gewesen. Forrestal betont auch, dass man seinen Einfluss auf Vereinigungen von frommen und hochrangigen Laien (Caritasverein der Damen, Töchter der christlichen Liebe, Compagnie du Saint-Sacrement) nicht überschätzen dürfe. Vor allem sei sein Einwirken auf die Ernennungspolitik der Krone – entgegen dem, was oft behauptet wird – gering gewesen. Wenn wichtige Benefizien zu vergeben waren, habe die Politik Vorrang gehabt.

Was bedeutet dieses neue nüchterne Vinzenzbild für uns? Ich kann nur sagen, was es für mich bedeutet. Vinzenz ist mir jetzt näher als zuvor. Nicht das Bild, das er von sich hatte, hat sich geändert, sondern jenes, das andere sich von ihm gemacht haben. In diesem Sinne gilt es nun so manche Aussagen von Vinzenz neu zu lesen und zu verstehen. Im Grunde kann ich und können andere nun die 51 Themen des vinzentinischen Online-Lexikons überarbeiten.

In der Rubrik Vinzentinische Spiritualität wird es aber zunächst um die Fortsetzung der vinzentinischen Bewegung nach Vinzenz‘ und Luise von Marillac‘s Tod im Jahre 1660 gehen.

1 www.academia.edu/38127632/Alison_Forrestal_Vincent_de_Paul_the_Lazarist_Mission_and_French_Catholic_R eform. _Oxford_Oxford_University_Press_2017_pp._336
2 www.academia.edu/38936495/Review_of_Forrestal Vincent_de_Paul


Alexander Jernej CM


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