Begegnungen einer Gefängnisseelsorgerin

von Sr. Sabine Götz, erschienen in Megvis Nr.59/2015

„Nur um deiner Liebe willen werden dir die Armen das Brot verzeihen, das du ihnen gibst.“

Vinzenz von Paul

Liebe Brüder und Schwestern, die wir gemeinsam im vinzentinischen Geist unterwegs sind.
Ich freue mich, dass ich Ihnen hier von meiner Arbeit als Gefängnisseelsorgerin berichten darf.

Vielleicht ist bei den meisten von Ihnen das Wissen über Gefängnis genau so groß wie meines, bevor ich Gefängnisseelsorgerin wurde. Was ich wusste war: diese Menschen haben etwas angestellt und sind dafür verurteilt worden und sitzen jetzt im Gefängnis und das ist so in Ordnung. Wenn ich dagegen heute die einzelnen Schicksale der Frauen anschaue, dann hat sich mein Bild von Gefängnis doch sehr geändert.

Zuerst gibt es ein paar Zahlen und Fakten: In Deutschland sind ungefähr 65 000 Menschen in Haft. Davon sind 4 – 5 % Frauen. Es gibt in ganz Deutschland nur in 6 Bundesländern ein reines Frauengefängnis, in allen anderen sind die Frauen in einem extra Trakt eines Männergefängnisses untergebracht. Es gibt keinen Unterschied zwischen den Frauen und Männer in der Sicherheitsfrage. In den Frauengefängnissen ist die Sicherung genau wie bei Männern. Frauen haben nicht das Gewaltpotential wie Männer und so gesehen sind die Frauen alle übersichert.

Situation der Frauen und Besonderheiten

Frauen haben im Gegensatz zu Männern viel mehr Gesprächsbedarf. Wenn ich einer Frau kurz eine Nachricht überbringen will, muss ich schon etwas Zeit mitbringen, da sie mir dann noch gleich von ihren Kindern erzählt oder dass sie gerade liebe Post bekommen hat, oder was sonst gerade so aktuell vorne dran liegt bei ihr.
Die meisten unserer Frauen kommen aus schwierigen Verhältnissen. Sie hatten keine Bahn, aus der sie geworfen werden konnten. Soziales und psychisches Chaos bestimmte ihre Kindheit. Sie haben auch nie lernen gelernt. Und aus dieser Situation soll das Gefängnis nun helfen.

Beim Umgang der Beamtinnen mit den Gefangenen erfährt man sehr schnell, dass mit Gefangenen nicht diskutiert wird. Sie erhalten einen „Befehl“ und den müssen sie ausführen. Das hat auch Auswirkungen auf unsere Arbeit. Zu Beginn meiner Tätigkeit war ich sehr erstaunt, wie die Frauen alles hinnehmen. Wenn einmal eine angekündigte Veranstaltung ausfällt, ist das halt so. Man muss keinen Grund angeben, und sich schon gar nicht mal entschuldigen.

Ich arbeite in einem reinen Frauengefängnis, und damit Sie wissen und eine kleine Vorstellung bekommen, von was ich rede, zeige ich Ihnen zuerst ein paar Bilder von unserem Gefängnis, unserer Frauenvollzugsanstalt. Das Gefängnis heißt im Volksmund „Gotteszell“. Es war früher, ungefähr vom Jahr 1240 bis 1803 Dominikanerinnenkloster. Die Nonnen wurden bei der Säkularisation enteignet und wurden 1808 vertrieben, der Besitz fiel an den Staat. Seitdem wurde das Kloster als Haftanstalt genutzt, zuerst für Männer und nach dem 2. Weltkrieg für Frauen. Zur Zeit sitzen hier etwa 300 Frauen ein.

© photocase.com / KONG

Ich bin seit dreieinhalb Jahren als Seelsorgerin tätig und vielleicht ist es gerade das Weihnachtsbild, das mich den Titel „Nur um deiner Liebe willen werden dir die Armen das Brot verzeihen, das du ihnen gibst“ wählen ließ. War ich doch noch sehr beeindruckt von unserer Weihnachtsaktion. Meine evangelische Kollegin und ich hatten am Ende des Jahres noch etwas Geld übrig, und so beschlossen wir: „Jede unserer Frauen sollte vor Weihnachten einmal einkaufen können.“ Bei uns gibt es die Möglichkeit für die Frauen, die Geld haben, einzukaufen. Dazu kommt eigens eine Firma in die Anstalt. Wir baten also die zuständigen Beamtinnen nachzuschauen und uns die Namen der Frauen zu nennen. Etwas erstaunt waren wir schon, dass es 1/3 aller Frauen war, die keinen Einkauf hatten. Hier müssen wir einfach sagen, dass die Armut bei uns – und nicht nur im Gefängnis – zunimmt, denn diese Frauen haben auch niemand draußen, der ihnen Sondergeld 1 überweisen könnte, das sind etwa 50 Euro im Monat. Wir stellten die Gutscheine aus und ließen diese durch die Beamtinnen den Frauen überbringen.
Ein Gutschein kam zurück, was ich fast vermutet hatte. Mit dieser Frau hatte ich einmal eine Auseinandersetzung, und das trägt sie mir immer noch nach. Hier stimmte einfach die Beziehungsebene nicht. Das ist für mich ein Beispiel von missglückter Seelsorge. Da die Frau noch länger bei uns einsitzt, gehe ich trotzdem oder gerade deswegen immer mal wieder bei ihr vorbei. Vielleicht gelingt es mir ja einmal, die Situation zu bereinigen.

Zum Thema Macht und Ohnmacht, mit dem ich mich beschäftigt hatte, darf ich Ihnen eine Begegnung schildern:
Eine Frau in der Untersuchungshaft suchte das Gespräch. Am Ende des Gespräches sagte sie zu mir: „Kann ich bei Ihnen telefonieren?“ – „Nein, das geht nicht, das wissen Sie, das ist mir nicht erlaubt:“ – „Kann ich dann mit Ihnen in Ihr Büro?“ – „Nein, das geht auch nicht. Mein Büro ist in der Strafhaft, da kann ich Sie nicht mitnehmen.“ – „Können Sie dann wenigstens eine Nachricht an eine Strafgefangene überbringen?“ – „Nein, wir sind keine Postboten und das kann mich ja meinen Job kosten!“ Darauf schaut mich die Frau sehr nachdenklich an und sagte ganz trocken: „Sie dürfen ja auch nichts!“ – „Ja, da sehen Sie mal, wie nahe wir bei Ihnen sind. Allerdings haben wir noch einen Schlüssel, das unterscheidet uns ein bisschen von Ihnen.“
Diese Frau hatte ganz klar erkannt, wo meine Grenzen als Gefängnisseelsorgerin liegen. Diese Begegnung zeigt ein bisschen die Situation auf, in der wir stehen. Wir dürfen uns nur in dem engen Rahmen bewegen, der von der Anstalt vorgegeben ist. Manches, das man draußen einfach machen kann wie zum Beispiel Spazieren gehen oder jemandem einen „Energiestein“ geben, oder oder, oder, das ist einfach nicht erlaubt. Oder ein anderes Beispiel: Ich habe ein Gespräch mit einer Frau. Da kommt eine Beamtin herein und sagt: „Frau Müller, sie müssen mitkommen zum Doktor“ – „Ich habe mich aber nicht angemeldet!“ – „Sie stehen auf meiner Liste, die wir vom Spital bekommen haben!“ – „Kann ich nicht später gehen, ich bin jetzt mitten in einem Gespräch?“ – „Nein, ich muss Sie jetzt mitnehmen, sonst können wir unseren Zeitplan nicht einhalten.“
Bei diesen beiden Beispielen verspüre ich eine gewisse Ohnmacht, wenn ich in meinen seelsorgerlichen Bemühungen derart eingeschränkt bin. Ich muss mich an die Sicherheitsvorgaben halten. Sicherheit toppt alles im Strafvollzug.

Macht habe ich, weil ich einen Schlüssel habe, und mich somit frei in der Anstalt bewegen kann, und weil ich selber entscheiden kann, wann ich ein Gespräch mit einer unserer Frauen ausmache und wie viel Zeit ich jemanden schenke.

Gefängnis zerstört Leben, so habe ich die folgenden Begegnungen überschrieben.

Ein Gespräch mit einer Afrikanerin: „Sie wollten ein Gespräch mit mir.“ – „Ja, ich wollte mit Ihnen reden.“ – „Jetzt habe ich Zeit, fangen Sie an!“ – „Ich komme aus Afrika, und ich bin nach Deutschland gekommen und habe hier Betriebswirtschaftslehre studiert und das Studium abgeschlossen. Ich habe hier meinen Mann kennengelernt und wir haben zwei Kinder. Nach dem Studium habe ich mich um eine Arbeitsstelle bemüht und ich hatte auch schon eine Zusage. Wir haben Drogen geschmuggelt und sollte das unsere letzte Fahrt sein und eigentlich hatten wir Geld und wären nicht darauf angewiesen gewesen. Doch da wurden wir geschnappt.“ – „Ihr Mann ist also auch in Haft?“ – „Ja“ – „Und wo sind die Kinder?“ – „Als wir verhaftet wurden, sagte mein Mann, dass es besser sei, wenn die Kinder in der Familie blieben und nicht zu Pflegeeltern müssen. So wurden die Kinder nach Amerika zu seiner Schwester gebracht. Dann hat mein Mann die Scheidung eingereicht, da seine Schwester meinte, ich sei nicht die richtige Frau für ihn und ich könnte keine Kinder erziehen. Die Kinder sollten bei ihr in Amerika bleiben. Dabei wollte ich eine richtig glückliche Familie haben und mit der Stelle wäre das auch möglich gewesen. Außerdem wollte ich, wenn ich dann genügend Geld habe, mit einer Hilfsorganisation einige Projekte zur Hilfe zur Selbsthilfe in meinem Land aufbauen. Aber daraus wird jetzt wohl auch nichts mehr – wer vertraut schon jemandem, der im Gefängnis war. Und somit habe ich jetzt gar nichts mehr. Keine Familie, keine Kinder, keine Arbeitsstelle. Ich stehe vor einem richtigen Scherbenhaufen meines Lebens.“

Eine andere Begegnung, die mir noch lange nach ging: Ich kam in einen Wohnbereich und hörte aus einer Zelle lautes Schimpfen. Ich ging zur Zelle und klopfte an und auf das „Herein“ betrat ich die Zelle. Eine Frau saß schimpfend auf ihrem Bett, eine andere auf dem einzigen Stuhl. Ich setzte mich zu der Frau auf dem Bett und fragte nach, was denn passiert sei. „Sie ist immer so, wenn sie Bilder von ihrem Sohn bekommt“, erklärte mir die Frau die auf dem Stuhl saß. – „Aber warum denn?“, fragte ich nach. Bei einer Tasse Kaffee bekam ich die Antwort: „Ich bin aus dem früheren Jugoslawien und mein Mann aus Portugal. Unser Sohn war gerade 8 Monate alt, als ich in Haft kam. Da die Haftzeit zu lange ist, konnte ich nicht in die Mutter-Kind-Abteilung. Mein Mann muss arbeiten, und so brachte er unseren Sohn zu seiner Familie nach Portugal. Und ich sitze hier wegen Diebstahl – wegen ein paar Euro!“ Ich war sprachlos. Nach einiger Zeit sagte sie: „Warum sagen Sie nicht?“ – „Was soll ich sagen? Sie wissen genau so gut wie ich, dass Ihr Sohn nicht ihre Sprache spricht, dass er nicht `Mama´ zu Ihnen sagt, wenn Sie hier rauskommen. Sie sind für Ihren Sohn eine fremde Frau. Und ob Sie jemals wieder für ihn die Mutter sind, das weiß ich nicht und das wissen Sie nicht!“ – Wir saßen schweigend nebeneinander. Dann sagte ich: „Vielleicht hört es sich für Sie jetzt ziemlich platt an, oder als sei es eine Ausrede, aber so ist das von mir nicht gemeint, wenn ich jetzt sage: Ich bete für Sie. Das ist alles, was mir im Augenblick einfällt. Und schauen Sie, wenn Sie draußen sind, dass Sie jemanden qualifizierten finden, mit dem Sie das Ganze anschauen können. Ich denke, Sie brauchen da Hilfe.“ Dann war meine Aufgabe erledigt.

Eine weitere Begegnung, die man überschreiben könnte mit dem Satz: `Den Menschen nicht um seine Krise betrügen.´ möchte ich Ihnen erzählen:
Eine unserer Frauen hatte alles, was sie an Essbarem besaß und ihren ganzen Tabak ihrer Schwester zukommen lassen, die in der Untersuchungshaft saß. Diese hatte so jämmerlich geklagt, dass sie nichts habe und auch keinen Einkauf. Nun hatte die Frau selber nichts mehr, und auch das erwartete Sondergeld in Höhe von etwa 50 Euro, welches man sich monatlich überweisen lassen kann, ist nicht überwiesen worden. Jetzt saß sie da, ohne Kaffee, ohne Tabak und auch ohne Dank. In ihrer Not bat sie um ein Gespräch. Ich ging hin und wir schauten das Problem an. Es stellte sich heraus, dass sie nicht „NEIN“ sagen kann. „Wie, Sie haben alles Ihrer Schwester geschenkt, und die hat sich nicht mal bedankt! Sie lassen sich hier ausnehmen wie eine Weihnachtsgans!“ – „Ja, und das ärgert mich ja so sehr. Jetzt muss ich halt warten, bis ich wieder Einkauf habe. Aber ich schaffe das.“ – „Ich denke auch, dass Sie das schaffen, und ich werde Sie dabei unterstützen, wenn Sie wollen. – Und jetzt fangen Sie mal an, NEIN zu sagen, denn wer nie Nein sagt, hat auch nie JA gesagt.“ – „Ich werde daran arbeiten und bin froh, wenn Sie mir helfen.“ – „Gut, dann machen wir jetzt folgendes: Sie bekommen von mir ein Tagebuch. Da schreiben sie hinein, wenn Sie mal NEIN gesagt haben. Das prüfen Sie täglich. Und fangen Sie mit kleinen NEINS an, damit Sie sich nicht überfordern!“. Noch am selben Tag ließ ich ihr das Tagebuch zukommen. In der ersten Zeit besuchte ich sie regelmäßig in kurzen Abständen, um die Fortschritte zu bewundern und sie zu stärken, das auch durchzuhalten und sich nicht irgendwo etwas auszuleihen, das sie dann doppelt oder dreifach zurückgeben müsste. Dann wurden die Zeiträume für Besuche immer weiter. „Ich wird nie wieder so blöd sein!“, versicherte sie mir.
Es kostet mich schon sehr viel Zeit und was noch schwerer wiegte, auch viel Kraft, die Situation auszuhalten, ist doch meinem Büro voll mit Kaffee, Tabak und Schokolade. Aber dies hätte ihr letztendlich nicht geholfen, sie hätte nichts aus dieser Situation gelernt. Ich war mir bewusst, dass dies der richtige Weg ist, der sie hoffentlich auch für die Zukunft stärkt. Später, als sie dann wieder Einkauf hatte, hat sie mir bei jeder Begegnung, ob im Hof oder auf Abteilung von ihrem NEIN-Buch erzählt. Sie war mächtig stolz, dass sie dies so geschafft hat.

Ein letztes Beispiel, wie unsere Arbeit zu einem – so hoffe ich – happy end geführt hat.

Eine Frau, Hartz IV-Empfängerin, saß bei uns ein wegen Schwarzfahrens, Fahren ohne Führerschein und Diebstahl. Ihr Mann musste sich einer dringenden Operation unterziehen, die er nicht mehr länger aufschieben konnte. Die ersten beiden Strafen waren Freiheitsstrafen, die letzte eine Geldstrafe. Wenn sie das Geld für diese Strafe aufbringen konnte, würde sie genau einen Tag vor der Operation entlassen. Sie versuchte verzweifelt, das Geld aufzutreiben, oder eine Haftunterbrechung zu bekommen, was ihr alles nicht gelang. Ihre und seine Familie wollte mit ihnen nichts mehr zu tun haben und schon gar kein Geld ausleihen. Ohne einen Anwalt hatte die Frau beim Gericht auch keine Chance. Meine Kollegin und ich überlegten, ob wir dieser Frau helfen. Nachdem auch noch die zuständige Beamtin das Gespräch mit uns suchte und uns mitteilte, dass sie sich echt große Sorgen um diese Frau machte, war unsere Entscheidung gefallen. Wir helfen dieser Frau. Wir überlegten, wie wir da genau vorgehen wollten. Nach einigem hin und her rief ich bei den beiden Kirchengemeinden vor Ort an und fragte nach, ob sie bereit wären, sich an den Kosten für die Auslösung der Frau zu beteiligen. Die Frau wolle ja das Geld auch wieder zurückzahlen. Das war kein Problem, und so teilten wir die Kosten auf. Lediglich die evangelische Seite merke dabei an, es sei ihr lieber, die Frau käme in die Kirche. Dem konnte ich vollauf zustimmen, war es doch auch in unserem Interesse, die Kirchen zu verständigen, dass es in ihrer Gemeinde solche bedürftigen Menschen gibt. Am Tag X ging ich zur Zahlstelle und zahlte das Geld ein. Dann wartete ich in meinem Büro auf den Anruf, dass die Frau sofort entlassen wird. An der Torwache traf ich die Frau, setzte sie in mein Auto und fuhr zum Bahnhof. Unterwegs drückte ich ihr die Adressen der beiden Pfarrämter in die Hand und sagte, sie möge sich dort melden wegen der Rückzahlungsmodalitäten. Am Bahnhof kaufte ich ihr eine Fahrkarte und einen „Reiseproviant“, verabschiedete mich und ging zurück in die Anstalt. Zwei Tage später war auf meinem Anrufbeantworter eine Nachricht von der evangelischen Kirchengemeinde, die Frau sei da gewesen. Sie seien so verblieben, dass sie das Geld nicht zurückzahlen müsse, wohl aber Kuchen backen, das täte sie ja gerne.
Wenn es uns gelungen war, diesen Menschen an eine Kirchengemeinde „anzudocken“, dann war alle Mühe und alles Geld gut angelegt. Das war in meinen dreieinhalb Jahren Gefängnisseelsorge das erste Mal, dass ich eine Frau ausgelöst hatte.

Oft werde ich auch gefragt, ob ich eigentlich keine Angst habe vor diesen Frauen. Nein, Angst habe ich nicht vor meinen Frauen. Frauen haben nicht das Gewaltpotential wie Männer. Frauen machen so gut wie keine Ausbruchsversuche. Wenn Frauen wissen, wie lange sie ihre Haftstrafe ist, sitzen sie die dann halt ab. „So ist da jetzt halt, da muss ich durch.“ ist oft die Antwort. Eine kleine Begegnung hierzu möchte ich noch schildern: Einmal kam ich in ein Hafthaus, wo gerade Aufschluss war. Die Frauen konnten sich also frei im Haus bewegen. Ich ging zu einer kleinen Gruppe von Frauen und fragte, ob alles – den Umständen entsprechend – in Ordnung sei. Plötzlich sagte eine der Frauen: „wir könnten Sie ja jetzt als Geisel nehmen.“ Jetzt heißt es Stärke zu zeigen. Ich reagierte ganz spontan: Kopf hoch, aufrichten und einen Schritt nach vorne und mit fester Stimme sagte ich: „Was haben Sie davon? Wenn Sie meine Schlüssel wollen, die kann ich Ihnen auch so geben. Dann können Sie –so wie ich – ein bisschen in der Anstalt herumlaufen. Hier und dort mal eine unbedeutende Türe aufschließen. Wenn Sie dann aus dem Gefängnis raus wollen, dann gehen Sie zur Torwache und klingeln dort, dass man Ihnen aufmacht, so wie ich das auch mache.“ Dann schaute ich sie von oben nach unten an und von unten nach oben und setzte trocken dazu: „Denn so unsportlich wie Sie sind, kommen Sie nicht über die Mauer.“ Damit war das Thema für mich beendet. Natürlich darf man nicht leichtsinnig werden, aber mit Angst kann ich meine Arbeit hier nicht tun.

Was auch eine Frage ist, die mir immer wieder gestellt wird ist: „Wie halten Sie das aus?“ Ich halte das aus, weil ich diesen Gott an meiner Seite weiß und ich mir dies auch immer wieder im Laufe eines Tages bewusst mache. Wenn es ganz heftig und schwer wird, dann gehe ich auch mal in die Anstaltskirche und rede da mit meinem Gott und das mache ich laut, denn da bin ich allein mit Ihm. Und oft muss ich Ihn fragen, wie er das zulassen kann, oder ob er das ganze Elend hier auch sieht.

Am Abend, wenn ich aus der Anstalt gehe, da hat mir Johannes XXIII geholfen. Dieser wurde einmal gefragt, wann er abends zu Bett geht. Er soll geantwortet haben, er ginge so gegen zehn Uhr ins Bett und sage zum lieben Gott: „Nun gehe ich ins Bett und schlafe, damit ich morgen wieder arbeiten kann und nun musst Du auf die Kirche aufpassen, denn schließlich ist es nicht meine Kirche sondern Deine!“ – Das hab ich mir für meine Frauen zu Eigen gemacht. Wenn ich aus der Anstalt gehe, sage ich dem lieben Gott, dass ich nun mein Möglichstes getan habe, dass er nun nach den Frauen schauen muss, denn schließlich sind es seine Geschöpfe, seine Abbilder, die er ins Leben gerufen hat, die er gewollt hat und liebt. – Zugegeben, das ist nicht immer einfach, aber es gelingt in den meisten Fällen.

Am Schluss meines Vortrages darf ich Ihnen sagen, dass ich gerne und mit Leib und Seele Gefängnisseelsorgerin bin. Vieles könnte ich Ihnen noch erzählen, aber bei einem Blick auf die Uhr sehe ich, dass die Zeit vorüber ist und somit darf ich mich bei Ihnen bedanken für Ihr geduldiges Zuhören.