Systeme erneuern

Anhänger der Französischen Revolution haben Vinzenz von Paul vorgeworfen, mit seinen karitativen Werken ein Herrschaftssystem unterstützt zu haben, das ungerecht war und viele Arme hervorbrachte. Tatsächlich hat Vinzenz niemals einen grundlegenden politischen Systemwechsel vor Augen gehabt, wohl aber eine zeitgemäße Erneuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse aus dem Geist des Evangeliums. Vinzenz hat dafür sowohl mit weltlicher als auch mit kirchlicher Macht gerungen, um seine Interessen zugunsten der Armen durchzusetzen.

Die moderne Zugangsweise des Vinzenz von Paul zu den Herausforderungen im karitativen Bereich zeigt sich in einer frühen Episode seines Wirkens. Im September 1621 macht er auf einer Reise in Macon, etwa 70 km nördlich von Lyon, Halt. In dieser kleinen Stadt gab es extrem viele Bettler und viele junge herumstreunende Frauen. Eine zehn Jahre zuvor vom Domherrn Nicolas Chandon gegründete Einrichtung der christlichen Nächstenliebe, genannt l’Aumône (das Almosen), hat bald viele Landstreicher, Bettler und Arme der ganzen Gegend angezogen und man wusste sich nicht mehr zu helfen. Die Priester vom Oratorium, bei denen Vinzenz wohnt, machen ihn mit Domherrn Chandon und den Verantwortlichen der Stadt bekannt. Vinzenz möchte helfen.

Gegen manche Widerstände leistet er Überzeugungsarbeit und kann in einer außerordentlichen Stadtratsversammlung am 17. September die Genehmigung für die Gründung eines Caritasvereins und für folgende Vorgehensweise erwirken: Zuerst wird die Anzahl der bedürftigen Personen genau in Listen erfasst. Dann wird ein Fonds angelegt, dem bestimmte Abgaben und Einnahmen zugewiesen werden und an dem sich möglichst viele mit z. T. regelmäßigen Geld- oder Sachspenden beteiligen. Dieser wird im Gegensatz zu früher nicht mehr von den Domherren allein, sondern von zwei Laien und zwei Domherren verwaltet. Mit diesem Vorschlag hat Vinzenz vermutlich die Stadtväter auf seine Seite gebracht. Schließlich werden strikte Regeln eingeführt, die heutigem pastoralen Handeln nicht mehr entsprechen, damals aber im Trend der Zeit lagen und den Domherren gefallen haben dürften: Am Sonntag gehen alle Armen zu einem eigenen Gottesdienst. Anschließend erhalten sie entsprechend der Größe der Familie Brot und Geld. Wer unter der Woche beim Betteln erwischt wird, erhält nichts. Durchreisende Arme werden für eine Nacht beherbergt und am nächsten Tag mit einem kleinen Betrag verabschiedet. Arbeitsfähige Männer müssen arbeiten, nur dann erhalten sie eine Ergänzung zu ihrem kargen Lohn. Jugendliche werden in einem Handwerk angelernt. Um die verschämten Armen, die kaum um etwas zu bitten wagen, sorgen sich die Frauen vom Caritasverein. Die Listen mit den Armen werden laufend aktualisiert, auch im Hinblick auf die Sanktionen bei Regelübertretungen.

Dieser Plan funktioniert. Er wird von Verantwortlichen in Politik und Kirche sowie von weiten Teilen der Bevölkerung getragen. In einem Brief an Luise von Marillac, die bei einem Unternehmen in Beauvais gerade große Anfangsschwierigkeiten hat, versucht Vinzenz ihr im Jahre 1634 Mut zu machen: Als der Caritasverein in Macon entstand, spottete jedermann über mich … und als die Sache gemacht war, zerfloss jeder in Tränen der Freude … ich war gezwungen, mich heimlich zu entfernen, um diesen Beifallskundgebungen auszuweichen. (I, 239f.)

Gesinnungswandel gegenüber den „Kindern der Sünde“

Eines der populärsten Werke im Leben des hl. Vinzenz ist seine Sorge um die Findelkinder. Einmal auf das grausame Los dieser Kleinen, die reihenweise in der von staatlicher und kirchlicher Seite getragenen Einrichtung, genannt La Couche, starben, aufmerksam geworden, hat Vinzenz sein Organisationstalent und seine Fähigkeit, andere zu motivieren, eingesetzt um ihnen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Er begleitet das Pilotprojekt, das Luise mit den Schwestern ab 1638 mit einigen wenigen Kindern beginnt. Bald wird er sich um alle in Paris ausgesetzten Kinder (etwa 360 jedes Jahr) kümmern. Die Betreuung der Kinder erstreckt sich bis zum frühen Eintritt ins Berufsleben.

Alison Forrestal (2017) zeigt erstmals auf, dass der ursprüngliche Impuls für dieses Werk nicht – wie bisher allgemein vertreten – von Vinzenz oder Luise sondern von Marie de Lamoignon, der Präsidentin des Caritasvereins von Saint-Nicholas-du-Chardonnet in Paris kam (187). Einige Frauen dieses Vereins hatten seit einiger Zeit das Elend, ja das Sterben der Findelkinder beobachtet und Ende 1637 beschlossen, etwas zu unternehmen. Marie de Lamoignon und ihre Tochter Madeleine, die auch Mitglieder im noblen Caritasverein vom Hotel Dieu sind, unterbreiten dort den Vorschlag, auf den Vinzenz in einem Brief vom 1. Januar 1638 an Luise Bezug nimmt: In der letzten Versammlung war man der Ansicht, Sie sollen gebeten werden, einen Versuch mit den Findelkindern zu machen. Sie sollen prüfen, ob es möglich ist, sie mit Kuhmilch zu ernähren und zwei oder drei Kinder zu diesem Zwecke aufzunehmen. (I, 417)

Mutter und Tochter de Lamoignon besuchen regelmäßig La Couche und können mit ihren Berichten von den dortigen elenden Zuständen die anderen Damen im Caritasverein vom Hotel Dieu zum Handeln animieren. Als die Herausforderungen größer werden, die finanzielle Situation sich einmal besonders zugespitzt hat und das Weiterbestehen des Werkes in Gefahr ist, springt Vinzenz in die Bresche und reißt mit seinen legendären Worten das Ruder herum: Mitleid und Liebe ließen Sie diese kleinen Geschöpfe als Ihre Kinder annehmen. Sie sind ihre Mütter der Gnade nach geworden, da ihre natürlichen Mütter sie verlassen haben. Sehen Sie jetzt zu, ob Sie sie nun ebenfalls verlassen wollen! Hören Sie einen Augenblick auf, ihre Mütter zu sein, um ihre Richter zu werden. Leben und Tod dieser Kinder liegen in Ihren Händen (XIII, 801). Dabei ist ihm klar, dass er in der anschließenden Diskussion unter den Damen nicht nur Luise auf seiner Seite haben wird. Gemeinsam mit diesem kleinen Kern der unerschrockenen Anwältinnen für die Kleinsten unter den Armen gelingt es Vinzenz schließlich so manche allgemeine Vorurteile gegenüber diesen armen unehelichen Geschöpfen, die als Kinder der Sünde galten, abzubauen und ihnen einen Platz in der Gesellschaft zu geben. Die Frage der Finanzierung des Werkes wird freilich eine ständige Herausforderung bleiben.

Der Kampf um den rechten Glauben

Vinzenz hat eine Vorliebe für Strukturen, die Informationen und Einfluss anbieten. Um 1635 tritt er der Compagnie du Saint-Sacrement (Gesellschaft vom Heiligsten Sakrament) bei. Diese war erst fünf Jahre zuvor als romorientierte elitäre Geheimgesellschaft für fromme einflussreiche Persönlichkeiten aus verschiedensten Bereichen der Gesellschaft gegründet worden. In kurzer Zeit machte sie sich viele Feinde, besonders unter den Jansenisten und Vertretern des Gallikanismus. Sie wurde 1666 vom jungen König Ludwig XIV. wieder aufgelöst.

Ende des 19. Jhs. wurden die Annalen der Gesellschaft entdeckt. Erste Studien darüber erregten großes Aufsehen. Als konspirative Gruppe mit Allmachtgelüsten wurden sie dargestellt, ihre religiösen, sittlichen und karitativen Bemühungen in Zweifel gezogen. Vinzenz wird darin als simples ausführendes Organ, quasi eine Marionette der Compagnie beschrieben. Die bedeutenden Vinzenzbiographen des 20. Jhs. belassen es mit einer einfachen Verteidigungslinie: Vinzenz wird in den Annalen nur im Zusammenhang mit Werken der Barmherzigkeit, die auch ausdrückliches Ziel der Compagnie waren, genannt. Darüber hinaus schreiben sie ihm Einfluss auf karitative Werke anderer Mitglieder der Compagnie zu, etwa zugunsten der Galeerenhäftlinge. Neuere Untersuchungen (Steinke, 2019) zeigen auf, dass verschiedene Quellen in diesem Bereich gegen eine solche Annahme sprechen.

Auf der anderen Seite hat Vinzenz nicht nur im karitativen Bereich im Sinne der Compagnie gewirkt, sondern auch im Kampf gegen religiöse Missstände. Er behält sich aber alle Freiheiten in der Ausführung vor. Als er 1635 von Mitgliedern der Gesellschaft gebeten wird, in einigen Dörfern rund um Paris Volksmissionen abzuhalten, schickt er nicht seine Mitbrüder, sondern gewinnt zwei Mitglieder der Dienstagskonferenz für diese Aufgabe. Mit diesen wird er auch einen anderen geheimen Auftrag ausführen. Er soll dem Verdacht nachgehen, bzw. überprüfen, ob in vielen Kirchen in Paris, die Eucharistie schlampig gefeiert wird.


Alexander Jernej CM
(Fortsetzung folgt)


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