Engagement in der Priesterausbildung

Bis in unsere Tage wird für die Lebensbeschreibung des hl. Vinzenz das Erzählschema des ersten Biographen Abelly verwendet. Demnach hat Vinzenz von Paul nach einem längeren Prozess der inneren Verwandlung, den er mit einem persönlichen Gelübde von nun an nur mehr den Armen zu dienen abgeschlossen hätte, mit Gottes Hilfe wie ein Pionier immer neue innovative Werke für die seelisch und leiblich bedrängten Menschen seiner Zeit ins Leben gerufen. Tatsächlich hat Vinzenz zuallermeist vorhandene Ideen und Modelle aufgegriffen oder er ist mit neuen Ideen von anderer Seite konfrontiert worden. Das Neue bei Vinzenz waren nicht seine Ideen, sondern seine Fähigkeit zu organisieren, aus den vorhandenen materiellen und personellen Möglichkeiten das Beste zu machen. Er ist 36 Jahre alt, als er 1617 aus einem konkreten Anlass heraus den Vinzenzverein gründet. Dabei wird ein weiteres Charakteristikum deutlich. Vinzenz denkt und handelt prozessorientiert. Er beginnt seine Gründungen und Werke ganz klein, zugleich denkt er schon ganz groß. Wie ein guter Bauer begleitet er dann das Wachsen der Saat, d.h. die guten Werke für die Armen, er bewahrt sie vor Schaden und bleibt offen für ihre Ausbreitung. Dies gilt für die Caritasvereine, die wie neuere Forschungen zeigen, keine Novität an sich waren, die aber durch Vinzenz zu einem „Erfolgsmodell” wurden. Auch das vinzentinische Engagement in der Aus- und Weiterbildung von Priestern bestätigt diesen Befund:

Das Konzil von Trient (1545-63) hatte die Priesterausbildung neu geregelt. Da und dort gab es in Frankreich bereits Ende des 16. Jh. Versuche, Ausbildungsstätten für angehende Priester, sog. Seminare zu gründen oder wenigstens spezielle Intensivkurse verbunden mit Exerzitien für die Priesteramtskandidaten vor der Weihe abzuhalten. Ab 1612 begann Berulle mit seiner neuen Gemeinschaft vom Oratorium in Paris und anderen Städten Priesterseminare einzurichten. Auch einzelne Diözesen beschritten diesen Weg, der noch begrenzt auf den Stadtklerus ausgerichtet war, mit mäßigem Erfolg. Vinzenz von Paul, der als einer der größten, wenn nicht als der Erneuerer der Priesterausbildung in Frankreich im 17. Jh. gilt, erscheint erst 1628 auf dieser Bühne. Er hält mit einem Mitbruder und anderen Priestern zehntägige Exerzitien für Priesteramtskandidaten unmittelbar vor ihrer Weihe in Beauvais. Der Bischof dieser Stadt Augustin Potier ist auch daran beteiligt. Dieser hatte laut Vinzenz auch die Idee zu dieser Initiative gehabt (vgl. I, 65).

Aus diesen kleinen Anfängen wird sich neben den Volksmissionen das zweite große Aufgabengebiet für die Lazaristen, nämlich die Aus- und Weiterbildung von Priestern entwickeln. Bald beginnt Vinzenz mit solchen Exerzitien in seinem Haus in Paris, dem alten aber geräumigen Kolleg des Bons-Enfants und bereits im Februar 1631 erlässt der Erzbischof von Paris Jean-François de Gondi die Norm, dass in seiner Diözese alle Priesteramtskandidaten solche Exerzitien vor der Weihe bei der neu gegründeten Gemeinschaft von Vinzenz, den Priestern der Mission (Lazaristen) machen müssen.

In dieser Zeit ist Vinzenz gerade mit einem unerwarteten Angebot beschäftigt: Er könne das riesige alte Priorat Saint-Lazare vor den Toren von Paris übernehmen. Anfang 1632 ist es soweit. Die Gemeinschaft übernimmt Kirche, Kloster und den dazugehörigen Gutshof und wird in der Folge auch den Namen annehmen: die Priester und Brüder von Saint-Lazare, die Lazaristen. Der Erzbischof gibt dazu seine schriftliche Zustimmung. Dabei erwähnt er unter den Werken der neuen Besitzer von Saint-Lazare auch die Exerzitien für die angehenden Priester. Tatsächlich ist nun die Gemeinschaft verpflichtet für alle, die der Erzbischof zu ihnen schickt, solche Kurse anzubieten, inklusive Unterbringung und Verpflegung. Ab 1638 kommen Priesteramtskandidaten aus ganz Frankreich dazu. Durch reiche Wohltäterinnen können die sechs Kurse pro Jahr für 70 bis 100 Teilnehmer weiterhin kostenlos angeboten werden. In anderen Häusern der Gemeinschaft, besonders in Rom, ist man aber gezwungen, finanzielle Beiträge zu verlangen.

Im Juli 1633 wächst aus den Priesterexerzitien ein neues Werk hervor. Einer der Teilnehmer regt regelmäßige Zusammenkünfte zur Weiterbildung nach der Priesterweihe an. Vinzenz greift das auf und beginnt mit elf jungen engagierten Pariser Priestern. Mit der Zeit werden es über hundert werden, die sich wöchentlich Dienstagnachmittag zu Themen des priesterlichen Lebens und Wirkens versammeln. Die Priester der Dienstagskonferenz bilden eine Vereinigung mit einer Regel. Leiter ist Vinzenz von Paul, der bestimmt, wer aufgenommen wird und er ist es, der auch verschiedene Tätigkeiten anregt, etwa die Teilnahme an größeren Volksmissionen zusammen mit seinen Priestern der Mission. Viele der Mitglieder der Dienstagskonferenz sind in der Verwaltung ihrer jeweiligen Diözesen in Frankreich tätig, nicht wenige werden später Bischöfe werden.

Daraus ergeben sich für Vinzenz wertvolle Kontakte, denn nur mit Zustimmung der jeweiligen Leitung werden die Lazaristen in einer Diözese aktiv. Solche „Dienstagskonferenzen” werden daraufhin in vielen Häusern der Lazaristen organisiert. Ich habe sie in Graz in den 1990er Jahren noch kennengelernt. Geblieben ist bis heute in vielen Häusern der Gemeinschaft eine besondere Gastfreundschaft für Priester.


Gründung der Barmherzigen Schwestern

Diese Gründung ist ein besonders anschauliches Beispiel, wie im Leben von Vinzenz von Paul Neues entsteht. Die Barmherzigen Schwestern gehen aus den Caritasvereinen in den Pariser Pfarren hervor. Als der Wunsch nach einem Caritasverein für Pfarren in Paris an Vinzenz herangetragen wird, zögert er lange. Seine Gemeinschaft ist für eine Tätigkeit auf dem Land gegründet und den Widerstand der Pariser Pfarrer hat er schon früher bei der Gründung der Lazaristen gespürt. Dann aber finden sich Damen von Rang, die den Caritasverein auf ihren Ländereien kennengelernt haben und sich bereit erklären, das Projekt zu unterstützen. Daraufhin gibt Vinzenz 1629 seine Zustimmung für einen ersten Verein in der Pfarre Saint-Sauveur. Luise von Marillac wird bei der Gründung eines zweiten Vereins 1630 in der Pfarre Saint-Nicolas-du-Chardonnet führend mitwirken. Mit den weiteren Gründungen in Paris geht es Schlag auf Schlag.

Natürlich gibt es in der großen Stadt andere Herausforderungen als auf dem Land. Wegen der häufigen ansteckenden Krankheiten in der Stadt etwa muss jeder Verein einen Arzt haben, der die Kranken, die in der Pfarre betreut werden, zuerst untersucht und behandelt. Und dann gibt es als besondere Herausforderung die allgegenwärtige große Zahl an Bettlern. Was ist hier zu tun? Vinzenz versucht es mit sog. „gemischten” Caritasvereinen aus Frauen und Männern, wobei sich die Frauen der Kranken annehmen und die Männer speziell für die arbeitsfähigen jungen Burschen eine Handwerkslehre organisieren. Es bleibt bei einem Versuch. Von gemischten Caritasvereinen wird man bald nichts mehr hören. Aber auch die Caritasvereine der Frauen in den Pariser Pfarren haben bald große Schwierigkeiten. Die Pflege der Kranken verlangt Verstand, Herz und Hände und die Bereitschaft zu „niedrigen Tätigkeiten”. Das war die Pariser Gesellschaft nicht gewohnt und guter Rat war teuer. Vinzenz erzählt in der Konferenz vom 25. Dezember 1648: Die Damen vom Caritasverein in der Pfarre Saint-Sauveur bedienten selbst die Armen, brachten ihnen Nahrung, Medikamente und sonstige Almosen. Da die meisten von ihnen vornehmen Standes waren und Ehemann und Familie hatten, war es ihnen oft unangenehm mit den Speisetöpfen herumzulaufen, sodass es sie schließlich verdross. Sie sahen sich nach Dienerinnen um, die dies für sie erledigten. (IX, 456) Die Qualität, die spirituelle Dimension des Armendienstes war in Gefahr.

Das Problem sprach sich herum. Eine junge Frau aus der Umgebung von Paris, die Arbeiten aller Art gewohnt war, hört davon und bietet Vinzenz ihre Dienste an. Er vermittelt sie an einen Caritasverein. Bald wünschen alle Vereine solche tüchtige junge Frauen vom Land und sie melden sich auch. Weil ihr Dienst schwer ist und sie in den Pfarren getrennt voneinander wohnen, entsteht der Wunsch nach einem gemeinschaftlichen Leben. Luise von Marillac wird 1633 zur Leiterin bestimmt. Mehr als 30 Jahre wird es dauern, bis sich aus den kleinen Anfängen mit drei bis vier jungen Frauen, die bei Luise einziehen, die Gemeinschaft der Barmherzigen Schwestern entwickelt, die mit ihrer neuen aktiven Ausrichtung wiederum zum Vorbild für viele andere Frauengemeinschaften werden wird.


Alexander Jernej CM
(Fortsetzung folgt)


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