Im Zentrum des Geschehens
Vinzenz von Paul hatte ab 1635 eine Sonderstelle in den außerordentlichen pastoralen und karitativen Bemühungen in Paris und in Frankreich inne. Er leitete zusammen mit einer gewählten Präsidentin den Caritasverein vom Hotel Dieu, dem bald etwa 50 und mehr Damen der vornehmen Gesellschaft angehörten, die Geld und Einfluss auch für große Projekte bereitstellten. Daneben wurde er Mitglied der geheimen Gesellschaft vom Heiligsten Sakrament (GHS), dem hauptsächlich einflussreiche Laien angehörten. Viele von ihnen waren Ehemänner, Söhne oder Schwiegersöhne der Damen. Vinzenz war der einzige, der „offiziell” auf beiden Seiten informiert und involviert war. Darüber hinaus hatte er neben den Lazaristen und Barmherzigen Schwestern auch beste Kontakte zu vielen jungen eifrigen Priestern, die an den Dienstagskonferenzen teilnahmen. Auf diese Weise war Vinzenz die Drehscheibe für viele Informationen und Projekte, die aber keineswegs alle von ihm ihren Ausgang nahmen. Vinzenz brachte sich aber, vor allem mit seinen Brüdern und Schwestern dort ein, wo Hilfe nötig war und wo er helfen konnte.
Hilfsaktionen für eine ganze Region
Im Mai 1635 tritt Frankreich aktiv in den 30-jährigen Krieg (1618-1648) ein. Richelieu schlägt sich auf die Seite der Protestanten gegen die Habsburger im Deutschen Reich und in Spanien. Besonders hart trifft es Lothringen, das zwischen allen Fronten steht und oft zum Kriegsschauplatz wird. Die Zivilbevölkerung, die gerade eben schlechte Erntejahre und Pestepidemie hinter sich gebracht hatte, ist der brutalen Gewalt und Unterdrückung feindlicher und ebenso verbündeter Armeen ausgesetzt. Hunger, Krankheit, Folter und Tod sind allgegenwärtig. Jede Hilfe wird gebraucht. Die GHS beginnt 1636 mit Hilfsaktionen in der Umgebung von Nancy. Die Lazaristen im Haus in Toul machen es ebenso. Aber viel mehr Mittel sind nötig. Vinzenz informiert die Damen, die im großen Stil spenden und Sammlungen aller Art organisieren. Ein langer Atem wird nötig sein, denn Hilfen dieser Art werden insgesamt – später auch in andere Provinzen – etwa zehn Jahre lang gebraucht.
Bald gibt es Rivalitäten zwischen den beiden Gruppen. Die Damen bringen weit mehr Mittel auf als die Mitglieder der GHS, die aber alles unter ihre Kontrolle bringen wollen. Die Herzogin von Aiguillon verteidigt die Eigenständigkeit der Unternehmungen der Damen. Vinzenz hält sich heraus. Er bringt sich aber auf beiden Seiten geschickt ein, ohne jedoch die Leitung der ganzen Hilfsaktion zu übernehmen. Sein Kapital sind die Mitbrüder, die – wenn auch unter großem Druck – die Hilfe vor Ort durch Errichtung von großen Verteilungszentren organisieren. Er schreibt 1639 in einem Brief: Wir haben mit Gottes Hilfe die Unterstützung der armen Leute in Lothringen übernommen und haben die Herren Bécu und Bondet, die Brüder Guillard, Aulent, Baptiste und Bourdet dorthin geschickt, je zwei in die Städte Toul, Metz, Verdun und Nancy. Ich hoffe, sie mit 2.000 Pfund monatlich versorgen zu können (I, 551). Für die gefährlichen Vinzentinische Geldtransporte wählt Vinzenz wenige, besonders geschickte Mitbrüder aus. Ab 1653 ziehen sich die Lazaristen aus Lothringen schrittweise zurück und andere Ordensgemeinschaften übernehmen die Organisation von Hilfszentren in Zusammenarbeit mit der GHS. Vinzenz erkennt ebenso die Eigenständigkeit der Anstrengungen der Damen an. Er schreibt im Juli 1656 rückblickend über ihr Wirken: Sie haben sich einiger unserer Priester und Brüder auf dem Land bedient und tun es immer noch, die die zerstörten Dörfer besuchen und sich über die Anzahl der Armen und ihrer
Bedürfnisse erkundigen. (VI, 52)
Vinzenz nutzt seine zentrale Stellung. Er sammelt und gibt Informationen weiter. Was wird gebraucht? Welche Güter? Wohin kann und soll er seine Brüder schicken? Zugleich beginnt er umgekehrt Schilderungen der konkreten Not weiterzuleiten. Er erkennt, dass die Leute wissen wollen, wofür und für wen konkret sie spenden sollen. Tatsächlich haben diese Flugblätter, die er überall verteilen lässt, eine große Wirkung. Am unteren Rand des Blattes war jeweils die Adresse des Hauses einer Dame vom Hotel Dieu angegeben, wo die Spende abgegeben werden konnte.
Karitas im Spannungsfeld von Politik
Im Jahre 1653 haben Vinzenz von Paul und Louise von Marillac ein beispielhaftes Werk für an den Bettelstab gekommene alte Menschen eröffnet. Dieses Hospital vom Namen Jesu, das etwa 40 Männer und Frauen und einige Waisenkinder beherbergte, brachte die Damen auf die Idee, ein sehr viel größeres, ja gigantisches, ähnliches Werk in Angriff zu nehmen. Nichts geringeres als la Salpêtrière, eine ehemalige riesige Pulverfabrik in staatlichem Besitz, wollten sie zu diesem Zweck umgestalten.
Vinzenz verspricht zu helfen, versucht aber den Eifer zu bremsen, weniger aus rein spirituellen Gründen, sondern weil er von neuen Entwicklungen Kenntnis hat: Mitglieder der GHS versuchen seit einiger Zeit Parlamentarier und Minister für die Errichtung eines Allgemeinen Hospitals, d. h. für einen Zusammenschluss aller staatlichen Hospitäler in Paris zu gewinnen, um in der Folge alle Landstreicher, Arme und Bettler von Paris schätzungsweise 40.000) dort unterbringen zu können. Genau zu der Zeit, als sich die Damen mit ihrem Großprojekt an Vinzenz wenden, hat der erste Präsident des Parlamentes Pompone de Bellièvre bereits den Beschluss gefasst, die staatliche Wohlfahrt neu zu ordnen. Ein Mitglied der GHS, Christophe du Plessis, wird beauftragt, diese Frage zu untersuchen, wie es wäre, alle staatlichen Einrichtungen, darunter la Salpêtrière, unter einem einzigen Direktorium zu vereinen.
Für Vinzenz stellt sich eine Grundfrage in diesem enormen Projekt, die Luise von Marillac, die offensichtlich eingeweiht ist, in ihren persönlichen Aufzeichnungen so wiedergibt: Wenn das Werk politischer Natur sein soll, dann sollen es die Männer durchführen. Wenn es aber ein Werk der christlichen Nächstenliebe sein soll, dann können es die Frauen, so wie bisher, durchführen. (Documents, 623f). Offensichtlich meint Luise hier die Männer von der GHS, die staatliche Zwangsmaßnahmen im Umgang mit armen Bettlern befürworten. Natürlich erfährt bald eine Vinzentinische Kerngruppe der Damen vom Projekt des Allgemeinen Hospitals. Sie schreiben viele Briefe an Pompone de Bellièvre, versprechen ihre Unterstützung und wollen im Gegenzug angehört werden. Die Lazaristen sollen die geistliche Leitung des Werkes innehaben, Vinzenz von Paul soll eine starke Stimme im Verwaltungsrat bekommen. Verhandlungen, Kampagnen und Spannungen beginnen.
Ein königliches Edikt vom April 1656 beendet die Debatten. In Paris wird das Betteln verboten, das Allgemeine Hospital errichtet, alle Stellen in der Verwaltung und im Verwaltungsrat werden politisch besetzt. Von den 28 Ratsmitgliedern sind vier Ehemänner von Damen vom Hotel Dieu und elf Mitglieder der GHS. Die geistliche Betreuung der Armen wird den Lazaristen angeboten. Vinzenz lehnt dies aber nach längerer Überlegung ohne Angabe von Gründen ab. Folgendes könnte ihn dazu veranlasst haben: Die Einweisung der Armen ins Allgemeine Hospital erfolgt mit Zwang. Die vorgesehenen Seelsorger wurden dazu nicht konsultiert. Außerdem, wo soll er 20 Priester abziehen, die in Vollzeit verlangt werden? Die Präsidentin des Caritasvereins vom Hotel Dieu, die Herzogin von Aiguillon schreibt an Vinzenz am 17. Oktober 1656: Für das Hospital respektiere ich Ihre Gedanken, aber erlauben Sie mir, Ihnen die meinen mitzuteilen, bevor Sie sich festlegen. (VI, 110) Vinzenz legt sich fest. Im März 1657, kurz vor Eröffnung das Allgemeinen Hospitals, informiert er die zuständige Behörde, dass die Lazaristen für diese Aufgabe nicht zur Verfügung stehen. Er bemüht sich aber bei der Suche nach geeigneten Seelsorgern hilfreich zu sein. Des Weiteren befürwortet er, dass Barmherzige Schwestern in den neuen Einrichtungen Dienst tun und ebenso die Damen der Caritasvereine. Andere Zeitgenossen, so der Kapuziner Yves de Paris sprechen sich viel deutlicher gegen diese „neue” Form der Armenfürsorge aus. In einer Veröffentlichung im Jahre 1661 verurteilt dieser scharf das Allgemeine Hospital als eine Form der Kriminalisierung der Armen. Sie werden weggesperrt, weil die Reichen ihren Anblick nicht ertragen.
Vinzenz kann und will sich eine solche Kritik offenbar nicht leisten. Zu viele seiner Wohltäterinnen und Wohltäter sind in dem großen Projekt beteiligt. Es wird wie viele Maßnahmen von oben herab nicht die gewünschten Erfolge bringen. Sobald man begonnen hatte, die Armen auf den Straßen von Paris in die staatlichen Einrichtungen mit Zwang einzuweisen, machten sich die meisten aus dem Staub. Das Bettelproblem und das Elend verlagerten sich anderswohin.
Alexander Jernej CM
(Fortsetzung folgt)
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