Der ungehorsame Konsul von Algier und sein „Abgrund von Schulden”

Jean Barreau (1612-79) war als junger Rechtsanwalt in die Gemeinschaft der Lazaristen eingetreten, um Priester zu werden. Vinzenz sieht in ihm den richtigen Mann für das jüngst erworbene Amt des Konsuls von Algier. Er bittet ihn, sein Theologiestudium und die Priesterweihe aufzuschieben und als Laienbruder diese Aufgabe zu übernehmen. Zusammen mit seinem Mitbruder, dem Priester Bonifatius Nouelly, kommen sie ausgestattet mit einem kleinen Regelwerk, das Vinzenz ihnen mitgibt, 1646 in Algier an. Der zehnte der insgesamt elf kurzen
Punkte für die beiden, die die Vorsehung Gottes nach Algier berufen hat, um allen christlichen Sklaven geistlich und leiblich zu helfen, lautet: Sie unterwerfen sich allen Gesetzen des Landes, außer der Religion, über die sie niemals Streitgespräche führen und nichts Verächtliches sagen sollen. (XIII, 306f)

Gesetze und Vorschriften sind für Barreau aber zweitrangig, wenn es gilt den Armen zu helfen. Kurz nach seiner Ankunft verbürgt er sich in sehr hohem Maße für einen Pater des Mercedarier Ordens, der wegen Schulden für die Befreiung von Sklaven gefangen gehalten wurde. Superior Nouelly hat noch vergeblich versucht, ihn davon abzuhalten. (XV, 71; Steinke 307) Vinzenz schreibt am 2. November 1646 an Nouelly, dass so etwas nie mehr vorkommen dürfe. (III, 115) Tatsächlich muss Barreau, weil er seine Bürgschaft nicht bedienen kann, unter einem neuen Pascha 1647 das erste Mal ins Gefängnis. Diese Erfahrung und alle Mahnungen helfen nicht wirklich, bzw. nur kurzfristig. Während Abelly in seiner Biographie von Vinzenz diese Schwäche des Konsuls im Umgang mit Finanzen eher positiv als ein etwas zu großes Mitleid mit den Armen interpretiert, spricht Steinke von Veruntreuung von Geldern in großem Stil (306). Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.

Kurz nachdem Barreau das erste Mal aus dem Gefängnis kommt, stirbt sein Mitbruder Nouelly an der Pest. Der Epidemie fallen zwei weitere Priester zum Opfer, die als Verstärkung geschickt wurden. Von 1649 bis Ende 1651 bleibt Barreau fast zwei Jahre lang allein. Als neuer Kaplan des Konsuls und zugleich sein Superior kommt der junge, besonders tüchtige, aber anfangs auch etwas übereifrige Philippe Le Vacher (1622-79), dem es nicht gelingt, Barreau einzubremsen.

Tatsächlich bleibt es nicht bei Bürgschaften, d. h. dass der Konsul etwa dafür geradesteht, dass ein freigelassener Sklave seine Loskaufsumme in einer bestimmten Zeit übermitteln werde. Durch Barreau’s Hände gehen viele Summen, die Zölle, die er von den Händlern kassiert, Geld zur Unterstützung einzelner Sklaven, Gelder für ihren Freikauf, aber auch Beträge, die die Sklaven hart erarbeitet und dem Konsul für einen späteren Freikauf zur Aufbewahrung anvertraut hatten. Alle diese Gelder haben ihren klaren Verwendungszweck, allein Barreau nimmt es damit nicht genau.

Am 26. Juni 1654 zeigt sich Vinzenz noch ganz verwundert, als er dem Superior in Marseille schreibt: Ich weiß nicht, wie sich diese aus Algier kommenden Sklaven beschweren können. Es ist sicher, dass ich Herrn Barreau immer angegeben habe, wie viel Geld für jeden einzelnen Sklaven bestimmt war. (V, 161) Im Brief vom 3. April 1655 bekommt Vinzenz eine offenherzige und zugleich erschütternde Erklärung. Barreau schildert den großen Druck, unter dem er täglich seine Entscheidungen trifft. So hat er etwa Geld für Sklaven, die aus Le Havre stammen, erhalten, aber es reicht nicht für alle. Jeder möchte drankommen und die Herzogin von Aiguillon macht sich besonders für einen älteren Herrn und für solche stark, deren Glaube zu wanken beginnt. Wie aber auswählen ohne andere in Verzweiflung zu stürzen? Manches zugesagte Geld ist noch nicht eingetroffen. Außerdem hat er das Geld, das viele Sklaven ihm zur Verwahrung gegeben haben, bereits für andere Zwecke ausgegeben und er fürchtet den Augenblick, in dem sie es zurückverlangen. Barreau bittet daher Vinzenz wieder einmal um Hilfe, sprich um finanzielle Unterstützung. (vgl. VIII, 532f)

Kurz darauf gibt Vinzenz in einem Brief seinem Mitbruder, Superior Firmin Get in Marseille, recht, der meint, dass es besser wäre, die zwei Konsulate in Nordafrika anderen zu überlassen, die daraus ihren Gewinn machen. Das würde die Seelsorge der Priester nicht beeinträchtigen (V, 364f). Dennoch macht Vinzenz weiter wie bisher: Er zeigt Mitleid mit Barreau, der diesmal unter Zwang, wieder für einen Mercedarier-Pater eine große Summe gezahlt hat, er verspricht Hilfe, bittet um Geduld und ermahnt, die gesendeten Gelder immer nur entsprechend den Widmungen der Spender auszugeben (VI, 6f). Im Februar 1657 beklagt sich Vinzenz aber beim Superior in
Marseille über den Konsul in Algier: Ich weiß nicht, was dieser gute Mann sich denkt. Er stürzt sich jeden Tag mehr in einen Abgrund von Schulden; ihn da herauszuziehen wird schwierig, um nicht zu sagen, unmöglich sein. Er hat weder Kraft, eine Bitte abzuschlagen, noch Geschicklichkeit, ungerechtfertigten Forderungen [gemeint: von Seiten der Behörden] auszuweichen. (VI, 178)

Im April 1657 bahnt sich eine Wende an. Vinzenz erwähnt in einem Brief an den Superior in Marseille einige besondere Gründe, die ihn veranlassen, kein Geld mehr nach Algier zu senden (VI, 273). Offenbar ist er jetzt bereit die Konsulate zu verkaufen. Im Mai fragt er den Superior in Marseille, ob es dort in der Stadt Interessenten für das Konsulat in Algier gäbe (VI, 300). Am 8. Juni schreibt er allerdings, dass er bis jetzt die Herzogin von Aiguillon noch nicht von diesem Plan überzeugen konnte (VI, 315). Jetzt aber ist es bereits zu spät.

Denn zur gleichen Zeit bahnt sich in Algier die nächste, die eigentliche Katastrophe an. Der dort tätige französische Händler Rappiot flieht hoch verschuldet mit seinen Waren und zusammen mit seinen Mitarbeitern, zwei christlichen Sklaven und zwei Renegaten. Algerische Gläubiger verlangen gerichtlich vom Konsul ihr Geld. Steinke behauptet, Barreau hätte wieder einmal eine Bürgschaft übernommen, bleibt aber einen Beweis dafür schuldig (310f). Der Konsul wehrt sich diesmal vehement gegen diese finanzielle Forderung und stimmt unter schwerer Folter dann doch einer Zahlung zu. Als man in seinem Haus Nachschau hält, findet man aber fast leere Kassen. Diese Nachricht verursacht eine große Empörung bei vielen armen Sklaven, die ihr bitter Erspartes dem Konsul zur Aufbewahrung anvertraut hatten (311). Dieser landet vorerst einmal wieder im Kerker.

Der ganze Vorfall ist eine große diplomatische Affäre, die aber von Frankreich, dessen Marine durch den Krieg mit Spanien gebunden ist, heruntergespielt wird. Der König bemühte sich bei der Beschlagnahmung der Güter Rappiots im Ausland zu helfen, Superior Get veranlasste eine solche in Marseille.

Daneben stehen jetzt aber die Glaubwürdigkeit der Lazaristen und ihre Tätigkeit in Nordafrika auf dem Spiel. Vinzenz hört von tumultartigen Übergriffen auf die Mitbrüder in Marseille, denen man vorwirft, die Loskaufgelder der armen Sklaven aufzuessen. Er schreibt am 7. September 1657 nach Marseille: Wir müssen uns damit abfinden, solche Peinlichkeiten zu ertragen. Es werden bald noch andere kommen, nicht nur in Marseille, sondern hier und überall, und dies durch den Fehler dieses armen Mannes, der so elend [sic!] unbesonnen war, das Geld der armen Gefangenen zu nehmen und es unüberlegt für andere Zwecke zu gebrauchen als für deren Freiheit. Nun, da er sich selbst der Möglichkeit beraubt hat, sie zufriedenzustellen, hat man da nicht recht, sich zu beklagen, und müssen wir nicht zu Recht die Schande ertragen, die auf uns durch seine Unvorsichtigkeit und ihre Vorwürfe zurückfällt? (VI, 446f)

Im März des folgenden Jahres findet Vinzenz schärfere Worte. Er schreibt an Superior Get in Marseille: Ich bin sehr verärgert über die Vorwürfe, die Sie vom Konsul aus Algier empfangen haben. … Es ist wahr, dass dieser arme Mann durch die schlechten Angelegenheiten, in denen er steckt, so bedrängt ist, dass seine Beschwerden entschuldbar sind, aber er ist auch tadelnswert in seinem Vorgehen, weil er ja selbst die Bürgschaften eingegangen ist, für die er jetzt leidet – und wir auch – und zwar aufgrund der Nichtbeachtung der Anordnungen, die man ihm von Anfang an gegeben hat, für niemanden, wer es auch sei und unter welchem Vorwand auch immer zu bürgen. Niemals habe ich eindeutiger die Bösartigkeit des Ungehorsams erkannt, als ich sie bei dieser
Gelegenheit erkenne, die mehr Unfrieden stiftet und mehr den Ruf der Gemeinschaft aufs Spiel setzt als ich Ihnen sagen kann.
(VII, 105) Wie Vinzenz von Paul versucht, aus dieser Misere herauszukommen, folgt in der nächsten Nummer.


Alexander Jernej CM
(Fortsetzung folgt)


<< 11. Nordafrika II | 13. Nordafrika IV >>