Vor Jahren habe ich in Expertenkreisen gehört, dass wir über das Leben des hl. Vinzenz von Paul alles wissen und sämtliche Einzelheiten – soweit eben möglich – erforscht seien. Bald darauf hat sich eine neue Generation von jungen Historikern mit Publikationen zu Wort gemeldet, deren Grundtenor lautet: Über Vinzenz von Paul wissen wir zu viel bzw. wird ihm immer noch Zuviel zugeschrieben. Das Projekt „Wer ist der Mensch Vinzenz hinter der Heiligenlegende” wurde zwar von Pierre Coste CM zu Beginn des 20. Jh. begonnen und von anderen – meist Lazaristen – weitergeführt, aber sie blieben insgesamt allzu sehr von der ersten Biographie, verfasst von Abelly (1664) abhängig, die nach heutigen historisch wissenschaftlichen Standards wenig kritisch, in erster Linie im Hinblick auf eine zukünftige Heiligsprechung geschrieben wurde. Wie aber könnte eine historisch nüchterne Lebensbeschreibung von Vinzenz von Paul aussehen, ohne gleich zu behaupten: Das ist sie jetzt? Hier ein erster Versuch:


Herkunftsfamilie und Kindheit

Vinzenz von Paul wurde als drittes von sechs Kindern einer Bauernfamilie am 28. März 15811 in Südfrankreich geboren. Das „von“ in seinem Familiennamen ist eine Eigentümlichkeit in seiner Region und kein Hinweis auf eine adelige Herkunft. Seine Eltern waren aber Besitzer des Landes, das sie bestellten und nicht wie viele andere Abhängige eines „hohen Herren”. Ein Verwandter väterlicherseits war Priester mit einer guten Pfründe, d. h. er hatte eine mit seinem Amt verbundene gute Einnahmequelle. In der Verwandtschaft der Mutter gab es familiäre Verbindungen zum Richter der benachbarten Provinzhauptstadt Dax, Herrn de Comet.


Weg zum Priester – Studium

So reift bei den Eltern der Entschluss Vinzenz die Priesterlaufbahn zu ermöglichen. Nach etwas Privatunterricht beim Pfarrer beginnt er mit etwa zwölf Jahren seine Schullaufbahn im Kolleg der Franziskaner in Dax. Nach einiger Zeit kann er bei Herrn de Comet wohnen. Im Gegenzug gibt er dessen Kindern Privatunterricht. Am 20. Dezember 1596 empfängt Vinzenz die ersten niederen Weihen, knapp ein Jahr später beginnt er an der Universität Toulouse mit dem Theologiestudium. Wieder ein Jahr später stirbt sein Vater und Vinzenz beginnt sich als Privatlehrer nebenbei Geld zu verdienen. Wohl aus finanziellen Gründen bemüht er sich so rasch wie möglich zum Priester geweiht zu werden. Am 23. September 1600 ist es soweit. Nach geltendem Kirchenrecht ist er viereinhalb Jahre zu jung dafür, aber die Normen des Konzils von Trient werden in Frankreich erst 15 Jahre später Rechtskraft erlangen. Sofort bemüht sich Vinzenz um eine Pfarre oder besser gesagt um eine dazu gehörende kirchliche Pfründe und hat schon eine im Blick. Als ein Konkurrent mit guten Kontakten in Rom sie ihm wegschnappt, macht er eine Wallfahrt in die „Ewige Stadt”, vermutlich auch in diesem Anliegen, allerdings ohne gewünschten Erfolg. 1604 erlangt Vinzenz den Titel eines Bakkalaureus der Theologie.


Abenteuerliche Wege im Ausland

Danach verlieren sich bald seine Spuren. In zwei langen Briefen, die gegen Ende seines Lebens auftauchen, erklärt Vinzenz seinem Wohltäter Herrn de Comet die Sache: Um Schulden einzutreiben war er auf einem Küstenschiff unterwegs, das von Piraten gekapert wurde. In Tunis wird er als Sklave verkauft und muss verschiedenen muslimischen Herren dienen. Mit seinem letzten Herrn, einem ehemaligen Christen, gelingt ihm die Flucht über das Mittelmeer nach Avignon. Von dort stammt sein erster Brief vom 24. Juli 1607. Den zweiten schreibt er im darauffolgenden Jahr am 28. Februar aus Rom, wohin ihn ein hoher Prälat aus Avignon mitgenommen hat. Vinzenz bleibt einige Monate bei seinem neuen Wohltäter, lernt vieles in der Ewigen Stadt kennen, beschließt dann aber – mit seiner Weiheurkunde, die er in Dax angefordert hat und vermutlich mit Empfehlungsschreiben ausgestattet – nach Paris zu gehen.


Neubeginn in Paris

Hier kommt er Ende 1608 mittellos an. Er findet Unterkunft bei „Landsleuten” aus der Gascogne und bemüht sich sofort um eine Anstellung. Er sucht und pflegt Kontakte zu verschiedenen Leuten. Nach etwa einem Jahr tritt er in den Dienst der Ex-Königin Margarete als „Berater und Almosenverwalter”. Seinen dritten uns erhalten gebliebenen Brief schreibt er an seine Mutter, in dem er in Aussicht stellt, nun bald ihr und der Familie den schuldigen (finanziellen) Dienst erweisen zu können. Dazu investiert er sein Geld in den Erwerb einer kirchlichen Pfründe, einer sog. Kommende, d. h. er erwarb den Titel eines Abtes und erhielt damit auch 1/3 der gesamten Einkünfte dieser Zisterzienserabtei. Die lag aber halb in Trümmern und das Ganze stellte sich als ein Verlustgeschäft heraus.


Spirituelle Wegbegleiter

Um diese Zeit erscheint das klassische Werk „Einführung in das geistliche Leben (Philothea)” von Franz von Sales. Es verbreitet sich sehr rasch und erlebt unzählige Neuauflagen. Wann Vinzenz es zum ersten Mal gelesen hat wissen wir nicht, aber er wird zeitlebens daraus schöpfen und es anderen weiterempfehlen.
Große Bedeutung hat für Vinzenz sodann die Begegnung mit dem gelehrten Priester Pierre de Berulle. Er ist an führender Stelle Mitglied einer kirchlichen Erneuerungsbewegung und gilt heute gemeinhin als der Begründer der sog. „Französischen Schule der Spiritualität”. Vinzenz vertraut sich einige Jahre seiner geistlichen Leitung an und befolgt seine Ratschläge. So übernimmt er 1612 die Pfarre Clichy am Rande von Paris, um dem bisherigen Pfarrer den Eintritt in die Gemeinschaft vom Oratorium zu ermöglichen, deren französischen Zweig Berulle eben erst gegründet hat. Vinzenz ist glücklich auf diesem Posten bei braven Landleuten, er entfaltet viele Initiativen, von der Kirchenrenovierung bis hin zur Gründung einer Vorbereitungsklasse für junge Burschen, die sich für den Priesterberuf interessieren. Sein treuester Gefährte in allen weiteren Unternehmungen, Herr Anton Portail, wird daraus hervorgehen.

Hauskaplan bei der Familie de Gondi

Schon nach einem Jahr hat Berulle für Vinzenz eine neue Aufgabe. Die einflussreiche gräfliche Familie de Gondi sucht einen Hauskaplan, der sich in besonderer Weise der Erziehung der Kinder annehmen sollte. Vinzenz ist dazu bereit, auch wenn er formell noch viele Jahre Pfarrer von Clichy bleiben wird. Madame de Gondi, die vor kurzem ihren dritten Sohn geboren hat, gehört ebenfalls zum spirituellen Kreis um Berulle. Sie gewinnt Vinzenz als ihren geistlichen Begleiter und nimmt ihn sehr in Beschlag. Dieser sehnt sich zurück zur seelsorglichen Arbeit bei den guten Landleuten. Wenn Madame de Gondi auf einer ihrer Ländereien weilt, sucht er Kontakt mit der Bevölkerung und feiert an Sonn- und Festtagen in den Kirchen mit ihnen den Gottesdienst. Vinzenz und auch Madame de Gondi sind bestürzt über die religiöse Verwahrlosung auf dem Land. Die wenigen dort tätigen Priester sind meist sehr ungebildet. Viele Menschen leben ohne Sakramente oder sie empfangen sie ungültig. Franz von Sales, aber auch Berulle propagieren als Heilmittel eine gute Lebensbeichte für einen umfassenden geistlichen Neuanfang. Madame de Gondi bittet Vinzenz darüber zu predigen. Zurück im gräflichen Palais in Paris aber verfällt Vinzenz ins Grübeln und hält es schließlich nicht länger aus. Er geht zu Berulle und bittet um eine andere Aufgabe, möglichst weit weg.


Pfarrer von Chatillon

Anfang August 1617 kommt Vinzenz als Pfarrer nach Chatillon, in der Nähe von Lyon. Voll Elan beginnt er mit zwei Kaplänen und einigen Priestern, die im Ort wohnen, seine Arbeit. Ein Notfall in einer Familie führt bereits nach einigen Wochen zur Gründung des ersten Caritasvereins. Vinzenz hatte in einer Predigt auf die Not aufmerksam gemacht und das Echo der Gläubigen, besonders der Frauen, war enorm. Sie bringen so viele Lebensmittel auf einmal, dass Gefahr besteht, dass vieles verdirbt. In kluger Weise erkennt Vinzenz die Notwendigkeit die Nächstenliebe zu organisieren, um für weitere Notfälle gerüstet zu sein. So verwendet er viel Zeit um für den neuen Verein eine Regel zu schreiben. Dabei nimmt er für Einzelheiten der Hauskrankenpflege Anleihen von der damals noch jungen Regel der Barmherzigen Brüder, die er von Rom und Paris her kennt.

1 Vinzenz ist nach Abelly an einem Dienstag nach Ostern geboren worden. Fälschlich glaubte man lange Zeit sein Geburtsjahr wäre 1576. Daraus ergab sich als Geburtstag der 24. April. Im Jahre 1581 fiel Ostern auf den 26. März, daher ist Vinzenz am März 1581 geboren worden, allerdings nach dem julianischen Kalender. Dieser wurde in Jahr darauf, 1582, durch Auslassen von zehn Kalendertagen korrigiert. Aus heutiger Sicht käme man demnach zu folgendem Geburtsdatum für Vinzenz: 6. April 1581.


Alexander Jernej CM
(Fortsetzung folgt)


2. Gründung der Lazaristen >>