Das Werk der Priesterseminare ab 1642/43
Eine andere Entwicklung, die später in der Gemeinschaft – bis heute – zu Diskussionen über das ursprüngliche Werk der Volksmissionen führt, beginnt ab 1643 mit der Gründung von Häusern, die mit der Leitung eines diözesanen Priesterseminars betraut sind. Was klein beginnt, nimmt bald erhebliche Kräfte der Gemeinschaft in Beschlag. Noch zu Vinzenz’ Lebzeiten führen elf der 19 Häuser außerhalb von Paris ein Seminar. Bei Ausbruch der Französischen Revolution (1789) leiten die Lazaristen etwa 60, d. h. ungefähr ein Drittel aller Priesterseminare in Frankreich. Im Vergleich dazu hat die ursprüngliche Tätigkeit der Volksmissionen auf dem Lande stetig abgenommen.
Die Gründung einer eigenen Stätte der Priesterausbildung gemäß den Weisungen des Konzils von Trient wird in Frankreich von immer mehr Reformbischöfen in Angriff genommen. Mit derLeitung betrauen sie oftmals Priester verschiedener, meist neuerer Gemeinschaften, die sich dieser neuen Aufgabe intensiv widmen. Der erste, der sich diesbezüglich an Vinzenz wendet, ist der eifrige Bischof von Cahors, Alain de Solminihac. Seit vielen Jahren ist er mit Vinzenz befreundet. Die Reform des Priesterstandes ist ihr gemeinsames Anliegen. Sie tauschen sich häufig darüber aus und ermutigen einander zu weiteren Unternehmungen. Eine intensivere Zusammenarbeit in Cahors bringt zwar gute Früchte, erweist sich allerdings als schwierig und folgenreich.
Im Herbst 1642 werden die Aufgabengebiete der Lazaristen in dieser Diözese im Südwesten Frankreichs festgelegt: drei Priester und zwei Brüder sollen Volksmissionen halten, sechs Seminaristen, die der Bischof schickt, kostenlos ausbilden, Exerzitien für die Weihekandidaten geben und eine Pfarre in der Bischofsstadt übernehmen. Im Jahr darauf beginnen sie ihr Werk. Ähnliche Häuser in Saintes (1644), Le Mans, Saint-Méen (1645) und Treguier (1648) werden folgen.
Was in Cahors gut beginnt, erweist sich mit der Zeit aber als steiniger Weg. Der Bischof ist sehr fordernd, er möchte jedes Detail des Lebens im Seminar bestimmen. Nach einem Jahr verlangt er von Vinzenz, die Volksmissionen, für die er Ordenspriester aus seiner Diözese heranzieht, einzustellen und sich nur mehr auf die anderen Aufgaben zu konzentrieren. Das Überraschende geschieht. Vinzenz beugt sich den Wünschen seines Freundes und das, obwohl er immer vertreten hat und es auch weiterhin tun wird, dass das Werk der Volksmissionen für die Lazaristen wesentlich ist. So schreibt er noch Ende 1654 an Superior Blatiron in Genua: Zweck und Ziel unserer Gemeinschaft verlangen es, nur unter der Bedingung irgendein anderes Werk anzunehmen, dass wir Missionen auf dem Lande halten können … Sonst würden wir gegen die Absichten Gottes handeln. (V, 252) In Cahors hat Vinzenz diesen Grundsatz zwar befolgt, aber nach einem Jahr einer bedeutenden Änderung zugestimmt. Er wird zwar später sein Bedauern darüber ausdrücken, aber die Bresche in der Mauer lässt sich nicht mehr schließen: sechs Jahre später wird er das Priesterseminar in Agen übernehmen. In dieser Diözese gibt es bereits ein Haus für Volksmissionen in La Rose, gestiftet von der Herzogin von Aiguillon, sodass Vinzenz zustimmt, dass die Mitbrüder im Seminar sich ausschließlich ihrer Tätigkeit in der Priesterausbildung widmen.
Auch in einem anderen wesentlichen Punkt gibt Vinzenz nach. Nach ein paar Monaten verlangt Bischof Solminihac, dass der Superior ausgetauscht werde. So etwas hat sich Vinzenz noch nie bieten lassen, aber auch hier gibt er klein bei. Beim nächsten Superior wiederholt sich das Ganze, bis endlich einer gefunden wird, der dem Bischof genehm ist. Vinzenz bringt dieses Opfer seiner Autorität und der Stabilität der Gemeinschaft für einen hochverehrten Freund und Förderer der Gemeinschaft: In den 20 Jahren seines Bischofsamtes wird Solminihac zum Berater vieler jüngerer Kollegen. 1649 lädt er vier Nachbarbischöfe, die alle aus dem Kreis der Dienstagskonferenzen hervorgegangen sind, zu Beratungen über das Bischofsamt und im Besonderen über die Ausbildung der Priester ein. Solminihac schlägt allen vor, sollten sie ein Priesterseminar gründen, dann nur mit den Lazaristen. Alle stimmen zu, aber nur einer, Bischof Brandon von Périgueux wird sich finanziell in der Lage sehen, 1650 einen Versuch zu starten.
Vinzenz schickt zwei Mitbrüder um die Lage vor Ort zu erkunden. Die Fragen, wie viele Priester gebraucht würden und wie die Gründung finanziert werden soll, erweisen sich als schwierig. Doch dann taucht ein grundsätzliches Problem auf. Der Bruder des Bischofs, der ihm als sein Generalvikar in die Diözese gefolgt ist, äußert Zweifel, ob es überhaupt klug wäre, die Lazaristen mit der Leitung des Seminars zu betrauen. Schließlich kommt bald darauf eine lokale Priestervereinigung zum Zug. Bischof Solminihac interveniert vergeblich. Er informiert Vinzenz anschließend über den Auslöser dieses Stimmungsumschwunges: eine neu erschienene und im Klerus verbreitete Abhandlung des Gründers der Sulpizianer Jean-Jacques Olier – übrigens ebenfalls mit Vinzenz eng befreundet – mit dem Titel „Das Projekt der Errichtung eines Seminars.” Darin betont der Autor, dass der Bischof kraft seines heiligen Amtes der wahre und einzige Leiter jedes Seminars sei. Er sei mit seinen Priestern derart verbunden, dass sie nur durch ihn den rechten Geist ihres Standes erhalten können. In der Konsequenz hieße das, dass alle im Seminar tätigen Priester nur gänzlich auf den Bischof ausgerichtet ihre Aufgaben erfüllen können. Dazu seien aber, gemäß dieser Lehre, die Solminihac und wohl auch Vinzenz für eine schöne Theorie halten, Diözesanpriester oder eben Sulpizianer am besten geeignet.
Viele Schwierigkeiten ergaben sich, weil Vinzenz bei den von Bischöfen gestifteten Häusern stärker als sonst auf das Organisationtalent und das diplomatische Geschick der Mitbrüder vor Ort, besonders der Superioren angewiesen war. Nicht alle hatten diese Fähigkeiten, manche waren auch noch eigenwillig und beratungsresistent wie der erste Superior Jean Bourdet von Saint-Méen in der Diözese Saint-Malo. Der Bischof, ein Oratorianer, hatte dort den Lazaristen die ehemalige Benediktinerabtei mit der Wallfahrtskirche als Seminargebäude übertragen. Besonders als Bourdet mit Renovierungsarbeiten beginnt, beginnen benachbarte Benediktiner mit Hilfe von zuständigen Gerichtsbeamten die Abtei zurückzufordern. Der Bischof holt sich dagegen mit Beziehungen ein Urteil von einer höheren königlichen Instanz. Schließlich kommt es zu gewalttätigen Angriffen und der Superior ermutigt gegen die Weisungen von Vinzenz sich im Kloster mit allen Mitteln zu verbarrikadieren. Dennoch müssen sie weichen. Die Mönche, die das Kloster in Besitz nehmen, lässt der Bischof schließlich mit Hilfe von 15 Soldaten vertreiben. Vinzenz empfängt zweimal eine Delegation dieser Benediktiner in Paris, er würde ja seine Männer zurückrufen, aber es ist die Angelegenheit des Bischofs. (III, 27) Gelehrte Benediktiner verfassen Abhandlungen über die Affäre und berichten darüber auch nach Rom. Achtzig Jahre später beim Seligsprechungsprozess für Vinzenz von Paul werden die Berichte besonders sorgfältig studiert, denn in der ersten Biographie von Abelly findet sich kein Wort über diese leidige Geschichte. Vinzenz jedoch hatte damals, nachdem in Frankreich die Sache beigelegt war, um zukünftige Schwierigkeiten zu vermeiden, eine päpstliche Bestätigung der Übernahme der Abtei durch die Lazaristen beantragt und im Jahre 1658 auch erhalten.
Ein Jahr später, 1659, schreibt Vinzenz in seiner regelmäßigen Kommunikation mit den Superioren der Häuser über die Frage, die ihn bis zuletzt beschäftigt: Wir haben hier mit einem Programm begonnen, das alle Mitbrüder gleichermaßen befähigen soll für die Aufgaben in den Seminaren und bei den Volksmissionen. Bis jetzt hatten wir immer Schwierigkeiten Männer zu finden, die beides machen können. (VIII, 80f)
Vinzenz anerkennt in den Allgemeinen Regeln von 1658 die Tätigkeit in der Priesterausbildung nach den Volksmissionen auf dem Lande als grundlegenden Zweck der Gemeinschaft (vgl. AR I, 1). In den aktuellen Konstitutionen werden im Gegensatz dazu die beiden Tätigkeiten neben vielen anderen lediglich eigens hervorgehoben (14,15). Mitbrüder, die ausschließlich in diesen traditionellen Bereichen tätig sind, gibt es heute weltweit immer weniger, trotz mancher Bemühungen seitens der Generalleitung diese wieder zu stärken. Dass die Verkündigung der frohen Botschaft an die Armen nicht auf ein bestimmtes Werk, wie z. B. Volksmissionen festgelegt werden kann, hat auch schon Vinzenz von Paul lernen müssen.
Alexander Jernej CM
(Fortsetzung folgt)
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