Zuletzt noch ein militärisches Abenteuer

Das Mittelmeer war im 17. Jh. ein beinahe rechtsfreier Raum. Die wenigen Vereinbarungen des Osmanischen Reiches mit den europäischen Mächten waren die sog. Kapitulationen, besondere Handelsrechte, die der Sultan für Gegenleistungen, Tribute oder Militärhilfen gewährte. Darüber hinaus versuchte Frankreich als Erstes mit den nordafrikanischen lokalen Herrschern eigene, sog. Friedensverträge abzuschließen. Immer ging es dabei auch um die Gefangenen auf beiden Seiten. Aber sowohl die europäische als auch die nordafrikanische Seite hielten sich nicht an die Vereinbarungen. Es kam immer neu zu Übertretungen und einzelnen militärischen Aktionen (Steinke 242).

Selbst von kirchlicher Seite gab es viele Befürworter einer militärischen Lösung des Problems der Sklaverei in Nordafrika. Betroffene Sklaven baten darum (Steinke 343). Jean Le Vacher CM berichtet am 17. April 1655 an Propaganda Fidei in Rom über eine vorbildliche Militärexpedition der englischen Flotte zur Befreiung ihrer versklavten Untertanen (ebd). Am 1. September 1656 befürwortet Vinzenz in seinem Brief an den Superior in Marseille, Firmin Get, ein von den Genuesen geplantes militärisches Unternehmen gegen die Barbaresken, die der ganzen Christenheit so viel Leid antun und auch die Seelen von so vielen Gläubigen ins Verderben führen wollen. Vinzenz gibt sich zuversichtlich: Es besteht Grund zur Hoffnung, dass Unser Herr hier bald auf die eine oder andere Weise Abhilfe schaffen wird. (VI, 72)

Worauf spielt Vinzenz hier an? Etwa gar auf einen militärischen Plan? Steinke behauptet, dass ein solcher schließlich Anfang 1658 in Vinzenz selbst heranreift (Steinke 337). Allerdings schreibt dieser in dem Brief an den Superior in Marseille, Firmin Get, in dem er am 8. Februar 1658 zum ersten Mal dieses Projekt erwähnt, ganz klar: Ich danke Gott für den Vorschlag, den Ritter Paul gemacht hat, nach Algier zu gehen, um von den Türken Gerechtigkeit zu erlangen. (VII, 78)
Steinke bringt zwar diese Stelle im französischen Original in Fußnote 1970, übergeht aber den Sachverhalt, dass die Initiative von Ritter Paul einem ehemaligen Seeräuber – der später sogar geadelt und erfolgreicher Marineoffizier wurde – ausging. Unmittelbar nach der oben zitierten Stelle schreibt Vinzenz: Ich bitte Sie, ihn in meinem Namen aufzusuchen und ihm zu diesem Plan zu gratulieren.

Tatsächlich greift Vinzenz diesen Plan – wieder einmal mit Hilfe der Herzogin von Aiguillon – energisch auf (Steinke 339). Er erreicht, dass König Ludwig XIV. und Kardinal Mazarin das Projekt schriftlich approbieren (VII, 160). Vinzenz geht es aber um das Unternehmen Algier (VII 197). Er schreibt nach Marseille: Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes M. de Brienne hat unter den geheimen Befehlen, die er an Ritter Paul schickt, auch jenen beigefügt, nach Algier zu segeln (VII, 174). Steinke möchte Vinzenz als Motor für die militärische Aktion in ganz Nordafrika darstellen und so schreibt er bezugnehmend auf das vorige Zitat: Anfang Juni 1658 stellte der Staatssekretär … den Marschbefehl für die militärische Operation aus und übertrug dem Ritter Paul das Kommando (Steinke 339f).

Über Superior Get ist Vinzenz mit Ritter Paul in ständigem vertraulichem Kontakt. Get verhandelt im Namen von Ritter Paul mit den Ratsherren von Marseille und mit anderen Küstenstädten über eine mögliche Unterstützung der Militärexpedition, allerdings vergeblich (338f). Vinzenz will aber keineswegs alles auf eine militärische Karte setzen. Ende Mai 1658 will er nach Beratung mit Fachleuten in Paris zwei Mitbrüder nach Algier schicken, um den Konsul mit Geld freizubekommen. Aber drei Monate später ist es immer noch nicht so weit. Die Lage ist gefährlich: Der Botschafter Frankreichs in Konstantinopel und sein Sohn, der gekommen war, um das Amt von seinem Vater zu übernehmen, wurden dort ins Gefängnis gesteckt. Jetzt heißt es warten, wie der König reagiert, bevor man daran denken kann, jemand ohne allzu großes Risiko nach Algier zu schicken (VII, 265).

Vinzenz erkundigt sich auch, ob eine militärische Intervention sich negativ für französische Händler im osmanischen Reich auswirken könnte. Er ist beruhigt, als er erfährt, dass der Sultan dem französischen König in den Kapitulationen etwa im Falle unberechtigter Kaperei oder im aktuellen Fall der Misshandlung des Konsuls Strafmaßnahmen gegen die nordafrikanischen Regenten zugesteht. Darüber hinaus hat er bereits eine Depesche an den Botschafter in Konstantinopel geschickt, um seine Beschwerden diesbezüglich dem Sultan und der Hohen Pforte zu überbringen. (VII, 212; Steinke 339).

Das Unternehmen zieht sich in die Länge. Vinzenz schreibt weiter Briefe an den Superior des Hauses in Marseille, der die Verhandlungen mit Ritter Paul führt. Einmal verspricht er zu beten, dass Gott diesen erhalten möge für das Wohl des Staates und dass er seine [des Staates] militärischen Unternehmungen immer mehr segnen möge (VII, 171).1 Als sich das Unternehmen weiter verzögert, versucht Vinzenz auf Vorschlag der Herzogin und mit Einverständnis anderer Damen der Charité das in Marseille gelagerte Geld einzusetzen. Ohne genaueres darüber zu sagen, auch nicht, dass es schon vorhanden ist, bietet er Ritter Paul eine große Summe aus der Pariser Kollekte als zusätzlichen Anreiz für das Unternehmen an, zahlbar aber erst nach gelungenem Ausgang, d.h. nach Befreiung alle Sklaven in Algier (VII, 211; VIII, 25). Etwas später im August 1658 überlegt Vinzenz, ob man dem Ritter nicht doch sagen sollte, dass das Geld bereits da ist, um seine Motivation zu steigern (Steinke 341; VIII, 25).

Von September 1658 bis Anfang 1660 haben wir keine Informationen über das Projekt. Auf Gerüchte in Marseille, dass es bald losginge, reagiert Vinzenz im März 1660 umgehend (VIII, 268). Wenige Tage vor seinem Tod schreibt er am 9. September 1660 an Superior Get über ein Problem, diesmal in Tunis: Wir müssen das Ergebnis des Unternehmens von [Ritter] Paul abwarten, dann werden wir sehen. Ansonsten zeigt sich Vinzenz ratlos für die Schwierigkeiten der guten Mitbrüder in der Berberei, er vertraut sie seinem Gebet an. (VIII, 339)

Was Vinzenz nicht wusste bzw. noch nicht wissen konnte, war, dass drei Tage vorher die Militäraktion vor Algier ergebnislos abgebrochen worden ist. Nach bisheriger gängiger Darstellung hätten Stürme verhindert, dass sich die französischen Schiffe dem Hafen und der Stadt näherten. Immerhin hätten sich aber 40 Sklaven schwimmend zu den Schiffen retten können. Steinke bringt mit neuen Archivfunden zum ersten Mal belegbare Informationen über den Verlauf des Abenteuers, auf das Vinzenz so viel Hoffnung gesetzt hat:

Es beginnt mit einer gescheiterten Expedition der französischen Flotte in Kreta. Im Juli 1660 macht sich ein Teil der verbliebenen Schiffe unter Führung des Ritters Paul, der mit königlicher Vollmacht zur Verhandlung von Friedensverträgen und zur Herausgabe aller französischen Sklaven ausgestattet war (Steinke 345), nach Nordafrika auf. Bereits in Tripolis zeigte sich der Pascha von den Kriegsschiffen unbeeindruckt. Immerhin kann man die 186 französischen Sklaven freikaufen. Danach ging es nach Tunis. Die erhaltene postalische Korrespondenz mit dem Dey zeigt einen Schwachpunkt der französischen Argumente auf: die tunesischen Untertanen, die sich ebenfalls entgegen den Kapitulationen als Gefangene in Frankreich befinden (Steinke 346). Darüber hinaus sei vor kurzem ein Friedensvertrag mit einem Gesandten des Gouverneurs der Provence, dem Herzog von Mercoeur abgeschlossen worden. Nach Überprüfung dieser überraschenden Information segelte Ritter Paul unverrichteter Dinge weiter nach Algier.

Ende August geht man hier vor Anker. Der Pascha ignoriert zunächst seine „Gäste”, will dann von Friedensverträgen nichts wissen und droht bei einem Angriff alle Franzosen in Algier, angefangen beim Konsul, zu töten. Angesichts dieser kampflustigen und selbstbewussten Haltung des Paschas und aufgrund schlechten Wetters und knapper Vorräte beschließt Ritter Paul am 6. September 1660, drei Wochen vor dem Tod von Vinzenz, die Militärexpedition abzubrechen. Im Jahr darauf entspannt sich die Lage, und Konsul Barreau (s. GB Juni/Juli 2022), den seine finanzielle Misswirtschaft in eine schlimme Lage gebracht hatte, kann Algier verlassen. In Frankreich wird er sein Theologiestudium beenden, die Priesterweihe empfangen und eine neue Aufgabe in Gemeinschaft erhalten.

1 Das frz. „armes” kann Waffen heißen, wie Steinke schreibt (Vinzenz … betete für den Ritter Paul, dass Gott seine Waffen immer mehr segnen möge; 340), aber auch militärische Unternehmen. [Dictionnaire de L’Académie française4 1762 (s. http://portail.atilf.fr)]. Letzteres ergibt sich meiner Meinung nach aus dem oben zitierten Zusammenhang: für das Wohl des Staates, den Steinke weglässt.


Alexander Jernej CM
(Fortsetzung folgt)


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