Eine Flugschrift macht Geschichte

Drei Jahre vor seinem Tod ist Vinzenz von Paul mit einer Krise konfrontiert, die sein Lebenswerk in Frage stellt. Er hat es kommen sehen, aber aus verschiedenen Gründen, u. a. aus Rücksicht auf seine große Förderin, die Herzogin von Aiguillon, gezögert einzuschreiten, bis es zu spät war. Die finanzielle Misswirtschaft seines Mitbruders Jean Barreau als Konsul in Algier, die durch den Bankrott und die Flucht des französischen Händlers Rappiot offenbar wurde, hat schwerwiegende Folgen: Der Konsul, der im Grunde diplomatische Immunität besitzt, schmachtet im Gefängnis und wird dazu noch gefoltert, um den Geldforderungen Nachdruck zu verleihen. Auf diplomatischer Ebene ist die Position Frankreichs gegenüber dem lokalen Machthaber in Algier geschwächt. Der gute Ruf der Gemeinschaft der Lazaristen, die in vielen Bereichen von großzügigen Wohltätern unterstützt wird, ist nun auch in Frankreich bedroht, falls die Kunde von den verschwundenen Ersparnissen der armen Sklaven, die beim Konsul deponiert waren, dort die Runde macht.

Jetzt braucht Vinzenz in erster Linie sehr viel Geld. Er schreibt einen vierseitigen Bericht über die schlechte Behandlung, die dem Konsul von Frankreich in Algier widerfahren ist (Steinke/Bericht 119)¹ und schickt ihn an seine Wohltäter. Bei seinen großangelegten Hilfsaktionen für vom Krieg heimgesuchte Regionen hatte er ein paar Jahre zuvor gute Erfahrungen mit Spendenaufrufen gemacht. Das Echo ist diesmal aber gering. Selbst die Herzogin, die Hauptförderin des Werkes in Nordafrika und auch die anderen Damen der Charité können nicht helfen. Immerhin gelingt es durch viele Beziehungen die Erlaubnis für eine Generalkollekte in den Pariser Pfarren zu erhalten (VII, 90). Das Recht, in der Hauptstadt für den Sklavenloskauf in Nordafrika zu sammeln besaßen sonst nur die Trinitarier (Steinke 316). Vinzenz überarbeitet nun seinen Bericht und lässt ihn als Flugblatt verteilen (Steinke/Bericht 134). Er fürchtet zwar, die ganze Sache bringe mehr Gerede als Früchte (VII, 90), aber letztlich kommt eine ansehnliche Summe zusammen.

Der Inhalt der Flugschrift ist großteils in die erste Biographie von Vinzenz von Paul (1664) unter der Autorenschaft von Abelly eingeflossen und von dort ausgehend in alle weiteren. Bis ins Jh. war dieser Spendenaufruf dann verschollen. 1967 erfolgte eine erste kritische Untersuchung durch den Literaturwissenschaftler und Experten für die Barbareskenstaaten Guy Turbet-Delof. Daniel Steinke schließlich wertet ihn für seine Dissertation neu aus. Auch wenn die Schrift anonym ist, an der Urheberschaft von Vinzenz ist nicht zu zweifeln. Um seine Ziele zu erreichen, den Imageschaden für die Gemeinschaft einzudämmen und die Spendenbereitschaft zur Begleichung der Riesenschulden anzukurbeln, greift er allerdings zu einer einseitigen, interessengeleiteten Darstellung der Tatsachen. Steinke nennt sie eine strategische Gegendarstellung (Steinke/Artikel 133):

Die Kritik, die Vinzenz seinem Mitbruder gegenüber in vielen Briefen vorbringt, fehlt zur Gänze. Er wird als im Grunde gut und selbstlos geschildert, aber eben geldgierigen, bösartigen, barbarischen Ungläubigen ausgeliefert. Von Veruntreuung bzw. zweckwidriger Verwendung anvertrauter Gelder ist keine Rede, stattdessen wird behauptet, die armen Sklaven hätten, um dem Konsul in seiner misslichen Lage nach der Flucht Rappiots zu helfen, spontan ihre Ersparnisse zusammengetragen und zur Verfügung gestellt. Es braucht ihnen daher nur noch wiedergegeben werden. Falls jemand nichts von diesen Vorwürfen der Veruntreuung wusste, für den machte diese Darstellung es noch dringender etwas zu spenden, geht es ja nicht nur um das Wohl des Konsuls, sondern auch um jenes der armen Sklaven (Steinke/Artikel 133).

Deswegen habe der Konsul – so heißt es in der Schrift – seinen Kaplan (Herrn Le Vacher) nach Frankreich gesandt, um Geld für sie zu sammeln: Denn es ist zu befürchten, dass diese armen Sklaven gegen den Konsul aufbrausen und wenn sie sich dann mit ihren Klagen an ihre Besitzer wenden, könnten einige der Grausamsten ihn wiederum drangsalieren, indem sie ihrer Maxime gemäß vorgeben, dass die Güter der Sklaven ihnen gehören. Sie würden ihn letztendlich umbringen, wenn sie sehen, dass man ihn fallengelassen hat. (Steinke/Artikel 120) Diese eigenartige Passage, dass die armen Sklaven dem Konsul zuerst großzügig helfen, dann aber gegen ihn aufbrausen könnten, greift Nachrichten über die verschwundenen Ersparnisse (VI, 446f) und die anschließende Wut der armen Sklaven von Algier auf, von denen sich einige offenbar auch an ihre Besitzer wandten, um ihr Geld einzuklagen (Steinke 311).

Neben den Schulden, die Barreau für den geflüchteten Kaufmann Rappiot durch Folter erzwungen übernommen hat – was Vinzenz ein großes Unrecht nennt und tatsächlich nicht nur dem europäischen Völkerrecht, sondern auch muslimischen Rechtsvorstellungen widersprach (Steinke/Artikel 128) –, erwähnt die Flugschrift am Ende so nebenbei, dass der Konsul schon öfters unberechtigterweise ins Gefängnis geworfen worden sei und dass er auch jetzt weitere große Schulden habe. Diese werden aber nicht mit dem aktuellen Gerichtsprozess in Zusammenhang gebracht, sodass Gerüchte über Misswirtschaft und Veruntreuung von Geldern durch den Konsul wiederum aufgegriffen, aber letztlich entkräftet werden.

Da schließlich alles gesammelte Geld dazu dienen soll, das von den Sklaven vorgestreckte Geld zurückzuzahlen, das sie selber so dringend für ihren Loskauf oder zur Linderung ihrer Notlage brauchen, schließt die Flugschrift mit einem kräftigen Spendenappell:

„Angesichts dessen scheint es, dass diejenigen, welche über diese äußerste, oder quasi äußerste, Notlage des Heils von so vielen verlassenen Christen informiert sind, schuldig an dem Verlust ihrer Seelen werden, wenn sie diesen nicht mit ihrem Almosen beistehen, gemäß der Regel eines Heiligen, der sagt: Ihr, die ihr die extreme Gefahr für das Heil eures Nächsten gesehen habt und ihm nicht zu Hilfe geeilt seid, seid der Grund für sein Verderben. [Kursiv im Original]” (Steinke 317)

Die Generalkollekte in den Pariser Pfarren, die zu Ostern 1658 abgeschlossen ist, bringt den erwünschten Erfolg. Es ist weit mehr als die Schulden, die der Konsul für Rappiot übernehmen musste, aber dennoch etwas geringer als die realen Schulden insgesamt. Auch der Ruf der Lazaristen war zumindest in Frankreich gerettet. Von tumultartigen Übergriffen, wie in Marseille, hört man nichts mehr.

Abelly schreibt, dass mit dem gesammelten Geld die Sklaven in Algier umgehend entschädigt worden seien, sie hätten sich damit loskaufen und mit dem Konsul gemeinsam 1661 nach Frankreich zurückkehren können (Abelly, frz. Ausg., Bd. II, S. 107). Tatsächlich wollte Vinzenz das gespendete Geld sofort nach Marseille weiterleiten, um es von dort nach Algier zu bringen. Aber schon der Transfer in die französische Hafenstadt war gefährlich. Wo war diese große Summe sicher? Auf jeden Fall darf nichts darüber bekannt werden, um nicht in Algier falsche Begehrlichkeiten zu wecken, etwa, dass der eine oder andere Sklave nun mit seinem Freikauf rechnet. Am 14. Juni 1658 sendet er einen Wechselschein über 30.000 Livre an den Superior in Marseille (Steinke 336). Er ordnet aber an, dass Herr Huguier CM zunächst ohne diese Summe nach Algier reisen soll, um die Lage zu erkunden. Andere für bestimmte Sklaven gewidmete Gelder, die dem Mitbruder mitgegeben werden, darf er keinesfalls über den Konsul an den Mann bringen, denn dieser könnte sie ja wieder für andere Zwecke verwenden (VII, 183).

Die Reise von Herrn Huguier kommt jedoch nicht zustande. Damit kann auch das gesammelte Geld nicht nach Algier überbracht werden. Im Jahr darauf leitet Vinzenz den Vorschlag der Herzogin von Aiguillon – zwei Drittel des Geldes als Prämie für eine Militäroperation zur Befreiung der Christensklaven in Nordafrika zu verwenden – an Philippe Le Vacher in Marseille weiter (VIII, 25). Ein gewisser Ritter Paul, der zu großem Reichtum gekommen war und eine private Kriegsflotte besaß, hatte die Operation schon länger geplant, aber immer neu hinausgezögert. Jetzt wollten die Herzogin und Vinzenz die Sache etwas beschleunigen. Wer aber hatte die ursprüngliche Idee zu diesem militärischen Unternehmen? War es wirklich Vinzenz von Paul, wie Steinke behauptet, oder hat sich Vinzenz schrittweise immer mehr beteiligt, wie es mir erscheint? Darüber mehr das nächste Mal.

1 Daniel Steinke, Vinzenz von Paul und die Darstellung der Barbareskenstaaten. Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte einer Flugschrift aus dem Jahre 1657/58 in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte, Band 31/2012, 117-137. Zitiert als: Steinke/Artikel


Alexander Jernej CM
(Fortsetzung folgt)


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